„Den letzten Menschen stellen ich mir als Frau vor, die an einer Felsküste steht.“
2004 erklärte die Unesco die Kulturlandschaft des Vega-Archipels in Norwegen zum Weltkulturerbe. Mit dem Titel wird vor allem das harmonische Zusammenleben zwischen Mensch und Tier gewürdigt. Zur Tradition der dortigen Bewohner, vorrangig Frauen, gehört es, jedes Jahr im Frühjahr Nistplätze für die Eiderenten herzurichten. Im Sommer werden die Daunen der Tiere gesammelt und später verarbeitet. Der britische Autor James Rebanks hat zwei dieser Frauen begleitet und mit „Insel am Rand der Welt“ ein eindrückliches wie lehrreiches Buch geschrieben.
Rückkehr nach Fjærøy
Nach einem ersten kurzen Aufenthalt auf dem Vega-Archipel einige Jahre zuvor, um im Auftrag seines Chefs Peter mehr über den Umweltschutz in Norwegen zu erfahren, kehrt Rebanks erneut zurück. Der Archipel liegt an der norwegischen Westküste südlich des Polarkreises und umfasst etwa 6.000 Inseln, Holmen und Schären. Dieses Mal ist der Grund ein anderer: Rebanks drückt die Reset-Taste, in schwierigen Zeiten und in einer „finsteren und chaotischen Welt“, wie er schreibt, hofft er auf einen Neuanfang, auf eine Neuorientierung. Bei der Entenfrau Anna, die er bereits während seines ersten Aufenthaltes kennengelernt hatte und die nicht aus seinem Kopf wollte.

Anna stimmt seinem ungewöhnlichen Wunsch zu. Im April fahren sie mit einem Boot auf eine der zahlreichen abgelegenen Enteninseln: Fjærøy. Ihr mehrmonatiger Einsatz zum Wohle der Tiere und gemäß einer alten Tradition nimmt seinen Lauf – gemeinsam mit Ingrid, einer Helferin und Freundin Annas. Rebanks findet sich nicht nur am Rande der Welt mit Blick auf die Weite des Atlantiks, sondern per se in einer anderen Welt wieder. Die Lebensbedingungen sind einfach und bescheiden. Es gibt keine Heizung, kein fließendes Wasser, kein Internet, Strom dank eines Generators nur etwa aller zwei Tage. Nahe dem kleinen Haus steht ein Plumpsklo.
Mehr und mehr Respekt
In den nächsten Wochen bekommt der Brite nicht nur die Verlassenheit fern der modernen Welt, sondern auch die Härte der Arbeit zu spüren. Nester für die Eiderenten müssen repariert oder neu gebaut, Seetang als Untergrund gesammelt und getrocknet werden. Später gilt es, die Vögel nicht zu verscheuchen, für deren Schutz vor Fressfeinden wie Nerz, Raubmöwe und Seeadler zu sorgen und nach dem Flüggewerden des Nachwuchses die wertvollen Daunen einzusammeln. Mit der Zeit verändert sich das Verhältnis zwischen dem Gast aus England und den beiden Frauen, nach einem ersten „Abtasten“ werden sie ein Team. Rebanks verschafft sich Tag für Tag mehr Respekt und erkennt jedoch auch die Leistung und absolute Hingabe der Frauen, allen voran von Anna, an. Die Zeit auf der Insel gibt ihm darüber hinaus Gelegenheit, mehr über sich nachzudenken, über sein Leben, seine Zweifel, seine Vergangenheit, seine Rolle als Mann.
„Ich kenne kaum einen Menschen, der so sehr in jedem Augenblick aufgegangen wäre. Allmählich verstand ich die alten norwegischen Sagen über Felsen oder Berge, die sich in Lebewesen verwandelten, halb Mensch und halb Gestein. Diese Lebensweise setzte voraus, dass man sich selbst hintenanstellte, sich den Felsen, dem Regen, dem Wind und den Gezeiten hingab.“
Rebanks erzählt indes nicht nur vom Alltag auf der Enteninsel, auf der die Zeit gefühlt stillsteht, die Arbeit von der Jahreszeit bestimmt wird. Er schildert die Lebensgeschichten von Anna und Ingrid, die sich bewusst für diese Aufgabe entschieden haben. Anna, 1948 an der Seite ihres Zwillingsbruders Tore in einer Wohnscheune zur Welt gekommen, arbeitete einst in der Küche eines Seniorenheims, Ingrid war als Bankchefin tätig, ehe sie eine Krebsdiagnose ereilte. Anna ist eine junge Frau, als sie ihrem Vater erstmals auf einer Enteninsel unterstützt. Ihre Aufgabe ist bis in hohe Alter – sie ist mittlerweile 70 Jahre alt – ein wichtiger wie prägender Teil ihres Lebens.
Natur und Umwelt in Gefahr
Rebanks erzählt von der Rolle des Archipels im Widerstand gegen die deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg, von der Entwicklung des Landes nach dem Ölfund vor der Küste und der Stigmatisierung der auf der Insel verbliebenen Bevölkerung. Ein großes Thema zudem ist die Gefährdung der Natur. Die Bestände an Fischen und Seevögel gehen schon seit Jahren zurück, auch die der Eiderenten sind rückläufig. Die Gründe dafür sind mannigfaltig, reichen von der Verschmutzung des Meeres bis hin zu Raubtieren wie den Nerz, der einst vom Menschen eingeführt wurde. Auch der Schutz durch den Menschen, die den Vögeln ihre Rückkehr vorbereiten und die Nester herrichten, geht zurück, da immer weniger Frauen und Männer diese Arbeit leisten wollen. Das Buch ist reich an eindrucksvollen Landschaftsbeschreibungen, Rebanks beweist sein Auge für Details, sein Gefühl für Stimmungen zwischen den Menschen.
„Ringsumher erhoben sich Dutzende Inseln und Felseilande wie die Rücken einer Schule von Walen.“
Rebanks, 1974 auf der Farm seiner Familie im englischen Lake District geboren, studierte Geschichte, ehe er die Farm von seinem Vater übernahm. Sein erstes Buch „Mein Leben als Schäfer“ wurde ein Bestseller, für sein zweites „Mein englisches Bauernleben“ erhielt er mehrere Preise, darunter den Wainwright Prize for Nature Writing.

Mit „Am Rand der Welt“, das auf der Shortlist des Stanford Travel Book of the Year stand, befindet sich Rebanks fern der heimatlichen Gefilde, in einem anderen Land und in einer besondere Region dieses Landes. Sein Buch ist eine literarische Verneigung vor Anna und vor all jenen, die sich voller Hingabe und Herzblut diesem herausfordernden wie traditionellen Leben stellen. Zugleich ist es eine Ode an ein einfaches bescheidenes Leben und eine Natur, die auf den ersten Blick karg erscheint, aber letztlich voller Schätze ist und Demut fordert.
James Rebanks: „Insel am Rand der Welt“, erschienen im Penguin Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Henning Ahrens; 304 Seiten, 24 Euro
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