„Doch die Zeit – nicht unbedingt wie sie ist, denn wer weiß das schon, sondern wie das Denken sie darstellt – gewährt in ihrer Monomanie keine zweite Chance.“
Kate ist weg. Von einer Sekunde auf die andere. Ihr Vater Stephen sucht nach seiner kleinen Tochter beharrlich, doch vergeblich. Ein unaufmerksamer Moment an der Kasse des Supermarktes trennt Tochter und Vater. Für immer. Der winzige Bruchteil der Zeit entscheidet über das weitere Leben. Stephen und seine Frau Julie sind tief erschüttert. Doch anstatt sich gegenseitig ob des selben Verlustes Halt zu geben, gehen sie getrennte Wege. Sie zieht aus der gemeinsamen Wohnung in ein Cottage auf dem Lande. Er sucht in der Arbeit in einem Ausschuss zum Thema Lesen und Schreiben sowie im Alkohol und obsessiven Fernsehkonsums Zuflucht. Die erfolgreiche Zeit als Kinderbuchautor scheint vergessen. Die Ausschusstreffen bilden den einzigen Halt im Allerlei des Alltags. Das Gremium soll der Regierungskommission zur Kindererziehung Zuarbeit leisten.
Doch Ian McEwan wäre nicht Ian McEwan wenn dieser aufregende und minutiös geschilderte Auftakt seines Romans „Ein Kind zur Zeit“ nur in einen nichtsagenden, wenn auch spannenden Roman führen würde. In dem 1999 erschienenen Werk des Engländers spielt dieser obwohl unglaublich erschütternde und die Handlung in Gang bringende Moment keine Schlüsselrolle. McEwans Bücher haben mehr zu bieten als nur schnöde Effekthascherei und vor allem mehr zu sagen. So auch hier.
McEwan strickt eine Geschichte, in der das Vergehen der Zeit, das subjektive Empfinden und die Suche nach einer physikalisch eindeutigen Erklärung der Zeit und ihrer Rolle für das Leben auf Erden an vielen Stellen thematisiert wird. Die Szene rund um das Verschwinden der dreijährigen Kate thematisiert diese Frage erstmalig. Weitere folgen. So glaubt Stephen während eines Besuches in einem Pub seine Eltern in ihrer Jugend zu sehen. Mit Thelma, der Frau seines Freundes Charles und angesehene Physikerin, diskutiert er über die Zeit. Und Zeit hat in ihrem von Menschen erfassten Ablauf immer auch etwas mit der Kindheit zu tun, mit jener nur von der Gegenwart und dem fühlbaren Jetzt geprägten Lebensphase. Denn Charles, erfolgreich als Unternehmer und Politiker, erlebt einen Nervenzusammenbruch. Als Stephen ihn aufsucht, sieht er in dem einstigen Freund nur noch einen Schatten seiner selbst, der in einer selbst geschaffenen Kindheitsidylle eine Zuflucht sucht, aber das Ende findet.
Als nach mehr als drei Jahren Stephen seine verschwundene Tochter in einer Schülerin wiederzusehen glaubt, ändert sich sein Leben. Er beginnt wieder mit der Schriftststellerei, ein haarsträubendes und geheimes Dokument mit dem Titel „Autorisierter Leitfaden zur Kindererziehung“ wird ihm zugespielt und auch die Beziehung zu seiner Frau erfährt eine ungeahnte Wendung.
Auf den ersten Blick erscheint das Geschehen ein jetziges zu sein, das gut und gern in die heutige Zeit passen könnte. Doch McEwan entwirft ein Gesellschaftsbild, das eher einer erschreckenden Utopie gleicht: Bettler benötigen Lizenzen, die Regierung schreibt die Erziehung der Kinder vor, mit der das Land vor dem Abgrund bewahrt, es in eine erfolgreiche Zukunft geführt werden soll.
„Ein Kind zur Zeit“ ist ein spannender und vor allem anspruchsvoller Roman, der mit seinen surrealen Szenen und den weisen Gedanken über die Zeit und die Kindheit zum intensiven Nachdenken anregt.
Der Roman „Ein Kind zur Zeit“ von Ian McEwan erschien im Diogenes Verlag in der Übersetung aus dem Englischen von Otto Bayer
352 Seiten, 9,90 Euro