„Es gibt keinen Plan, keine Kontinuität, keine Dauer.“
Joe hat sich zurückgezogen. Aus der Hektik New Yorks, aus seinem Beruf als Literaturagent. Gemeinsam mit seiner Frau Ruth bewohnt er ein Haus in Kalifornien, abseits der großen Cities, mittendrin in der reinen Natur. Auf der Terasse genießen beide die Ruhe, ihren Garten pflegen sie hingebungsvoll, dann und wann muss ein Schädling dran glauben wie der tückische Giftsumach oder ein fieses Nagetier, das sich an die Pracht in den Rabatten wagt.
In nur wenigen Tagen verändert sich das beschauliche Leben des Ehepaares. Mit Peck wagt sich ein Vertreter der Hippie-Kultur auf das Grundstück der Allstons. Er baut ein Baumhaus, lebt von Obst und Gemüse und plant, eine Universität des freien Geistes zu errichten. Mit der Zeit verwandelt sich allerdings das Gelände zum Lebensraum einer kleinen Kommune und Peck zum Guru – zum Ärger von Joe, der nicht an die Ideale der Hippies glaubt und sich verärgert zeigt, dass er sich von dem jungen loddrigen Mann übers Ohr hauen lässt; schließlich nutzt dieser still und heimlich seinen Strom und das Wasser. Zudem lässt der Aussteiger Joe an seinen Sohn Curtis erinnern, der mit seinen Eltern gebrochen hatte, kein Fuß ins Leben fand und mit 37 Jahren während eines Surfunfalls ums Leben gekommen war.
Doch es ist vor allem das Wesen von Marian, einer jungen Frau, die mit ihrem Mann John und der kleinen Tochter Debby in die Nachbarschaft gezogen ist, die den mürrischen Ruheständler schier gefangen nimmt. Und nicht nur ihn. Der Leser wird diese Heldin – dieser euphorische Ausdruck ist in diesem Fall wirklich verdient – aus dem Roman „Vor der Stille der Sturm“ des Amerikaners Wallace Stegner (1909 – 1993) so schnell nicht vergessen.
Marian ist eine Heldin des Lebens. Erst nach einiger Zeit erfahren Joe und Ruth, dass ihre lebensbejahende und herzliche Nachbarin an Krebs erkrankt ist. Die gemeinsamen Monate mit den Allstons, die nahezu die Rolle von Eltern angenommen haben, sind auch ihre letzten, obwohl vor allem Joe immer noch die Hoffnung auf eine Genesung hat. Marian wird ihm indes eine Lektion erteilen, in der Schmerz und Kummer zum Leben gehören, die Geburt und der Tod unabänderlich sind. Doch nie ist in ihren intensiven Gesprächen vom Schicksal die Rede, vielmehr sei es der Lauf der Natur, des Lebens an sich. Ihr Tod, vor allem die letzten Tagen, in denen sich die junge Frau ihren Schmerzen bewusst gegenüber stellen will, hinterlassen in dem Ruheständler tiefe Spuren. Vor allem die Frage, warum sie sich für ihr noch ungeborenes Kind aufgeopfert und sich nicht für den Versuch einer Therapie entschieden hat.
Wie Stegner die Person der jungen Frau, ihre letzten Wochen und Tage, den Abschied und die Gespräche mit den Allstons in Form von Joes Erinnerungen beschreibt, lässt einen innerlich tief erschüttern und berührt ungemein. Das Buch piesackt nicht nur, es sticht in Wunden und wühlt auf, obwohl wunderbar ironisch erzählte Szenen in die ernste Handlung hineingeflochten werden. Gute, ehrliche und weise Literatur ist in ihrer Wirkung zwiespältig, sie erheitert und schmerzt – so auch hier. Denn in all der Trauer um einen besonderen Menschen hat Stegner nicht die Pracht des Lebens vergessen. Seine poetische Sprache findet Worte für sowohl große Stimmungen als auch kleine Details. Liest man die Naturbeschreibungen, enstehen im Kopf einzigartige Bilder, ja, man hört und riecht eine einzigartige Landschaft. Und selbst die Selbstopferung Marians und ihr Bekenntnis zum Tod, enthält die Kraft des Lebens und das Bewusstsein der eigenen, bescheidenen Rolle im Weltenlauf.
Wenn auch hier eine Reihe anderer Figuren nur am Rande erwähnt werden, wie die Welds, die kein Gespür für ihr kostbares Land haben und es Stück für Stück verscherbeln, oder die LoPrestis, deren Tochter in der Hippie-Kommune versumpft, hat es einen Grund. Marian und ihre eindrucksvolle Lebensphilosophie sind der Mittelpunkt, nicht mehr und nicht weniger.
Der Roman des Amerikaners, der mit seinem Buch „Zeit der Geborgenheit“ und der Erstausgabe im Deutschen Taschenbuch Verlag in Deutschland im Jahr 2008 aus der Vergessenheit geholt wurde, ist ein Wunder. Wenn jemand nur ein Buch in diesem Jahr lesen will, es sollte „Vor der Stille der Sturm“ sein. Kein Buch der letzten Zeit hat so viel Kraft und emotionale Momente zu bieten wie dieses.
„Vor der Stille der Sturm“ von Wallace Stegner erschien im Deutschen Taschenbuch Verlag in der Übersetzung aus dem Englischen von Chris Hirte.
360 Seiten, 14,90 Euro