Ordnung ist beherrschtes Chaos

Ordnung ist das halbe Leben, mahnte mich einst ein Lehrer während einer dieser unzähligen und eher unaufgeregten Hofpausen meiner Schulzeit. In welchem Zusammenhang er das zu mir sagte, weiß ich heute, einige Jahre später, nicht mehr. Nur an eines kann ich mich erinnern: Ich sagte ihm, dass Ordnung nur ein Viertel meines Lebens sei. Ob auch diese Bruchrechnung aufgeht, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht sind aus dem Viertel im Laufe der Zeit vielmehr nur ein Achtel geworden. Aber warum sich mit Bruchrechnung beschäftigen und der Ordnung im Leben eine Nische geben, die man sowieso nicht findet in jenem Chaos, das Leben heißt.
Schon das Weltraum beweist es: Ständig fressen Schwarze Löcher Materie, ja ganze Galaxien verschwinden auf Nimmerwiedersehen, Galaxien, denen wir noch nicht einmal einen Namen gegeben haben, obwohl wir doch sonst so ordnungsliebend sein sollen.

Ein kleines Schwarzes Loch befindet sich unter meinem Couchtisch ähnlich dunkler Farbe. Es ist die Vorstufe vor der berühmt-berüchtigten Rundablage, also dem Papiercontainer oder Mülleimer. Doch so eine Ablage ist schon praktisch, schnell kann ich mich vor allem jener Dinge entledigen, für die ich vorerst keine Verwendung finde: Werbung in Zeitschriften, die Brillenetuis Nummer fünf und sechs, Microfaser-Brillenputztücher, Werbekugelschreiber, die nach wenigen Tagen eine leere Mine offenbaren. Was man da nicht alles findet, wenn man der Ordnung zuliebe dann doch mal wieder aufräumt. Aber warum Ordnung halten, wenn die Entdeckung der Dinge so viel Spaß macht. Und man spürt vor allem Sachen auf, die man eigentlich gar nicht gesucht hat: ein Handy-Schutz, der schließlich bei der Anprobe doch nicht passt, eine Panorama-Postkarte aus Schottland von einer Freundin. Kürzlich fand ich ein Foto, eine Aufnahme von einem Zirkus. Erinnerungen kamen auf. Jenes Bild entstand während meiner ersten Tour als Journalistin, nun gut als frische Praktikantin und damit angehende Journalistin. Es war meine erste Story, mit der ich am ersten Tag des Praktikums in der Lokalredaktion einer Tageszeitung ins „kalte Wasser“ geworfen wurde.

Und dieses Foto brachte mich zum Nachdenken: Das Leben ist nicht zur Hälfte Ordnung, vielmehr vielleicht eine Abfolge bunter Vorstellungen, bei denen auch mal die Pferde scheuen können, dem Jongleur die Kugel herunterfällt oder die Seiltänzerin vom Sicherheitsnetz aufgefangen werden muss. Dann geht den Musikern der Blaskapelle die Luft aus, und dem Direktor kann auch schon einmal der Hut herabfallen. Es geht also drunter und drüber. Die Beherrschung des unwägbaren Chaos ist dann die wirkliche Kunst, denke ich.

Foto: Thomas Nestke/pixelio.de

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