Leben ist Kunst – Michel Houellebecq "Karte und Gebiet"

„Ein Menschenleben ist im Allgemeinen nur eine Kleinigkeit, es lässt sich in wenigen Ereignissen zusammenfassen (…).“


Das moderne Leben ähnelt einer Autobahn. Die Durchstarter rasen auf der Überholspur. Die hohe Geschwindigkeit oder das Gespräch am Mobiltelefon verhindert, dass sie nach links oder rechts schauen oder überhaupt etwas außerhalb ihres Kokons aus Glas und Blech registrieren. Wer ihnen die freie Bahn verstellt, wird geblendet. Jenen mit dem gemählicheren Tempo entgeht nur wenig. Vielmehr zählen sie die Abfahrten, werfen einen Blick auf jene, die Rast machen, schmunzeln über die Raser und ihren törichten Glauben, mit Geschwindigkeit Zeit zu gewinnen. Auch mit Tempo 200  vergeht das Leben. Da hilft kein Technikschnickschnack, kein Glanz, kein hohler Stolz. Nichts hilft.

Vielleicht tröst nur ein großer Namen über den Gedanken hinweg, dass alles  ein Ende hat. Er muss jedoch Ergebnis persönlicher Anstrengungen sein. Wie bei Jed Martin. Er ist Künstler, sein Vater ein Architekt, der weltweit Tourismustempel baut, seine Mutter hat sich mit 40 Jahren das Leben genommen. Über den Grund schweigt sich Jeds Vater aus. Ein Leben lang. Jed findet über die Fotografie zur Malerei. Einen Namen macht er sich mit Werken, in denen er Straßenkarten mit Satellitenbildern vereint, die in Paris erfolgreich ausgestellt werden. Ruhm erntet der Pariser  Künstler indes mit einer Reihe von Gemälden, die Menschen bei ihrer Arbeit oder in einem besonderen Moment zeigen. Während der Vorbereitung zu einer Ausstellung lernt Jed den bekannten Schriftsteller Michel Houellebecq kennen, der sich allen gesellschaftlichen Kreisen entzogen hat und ein Leben als Eremit in Irland, später wieder in Frankreich auf dem Land führt. Der Autor soll das Vorwort für den Katalog schreiben. Als Honorar bietet Jed Houellebecq ein Porträt an, das er selbst malt. Doch wenige Monaten nachdem er das versprochene Gemälde dem Schriftsteller übergeben hat, wird dieser auf entsetzliche Art und Weise ermordet, so dass es selbst erfahrene Polizisten den Magen umdreht beim Anblick der sterblichen Überreste.

Ein Autor, der sich in einem Buch selbst ein Ende setzt, und dann ein so grausames – Michel Houellebecq beweist mit seinem jüngsten Roman „Karte und Gebiet“ nicht nur gehörige Portionen an Selbstironie und schwarzen Humors. Wie er über die großen Themen das Leben und der Tod, das Leben und die Kunst, Gesellschaft und Kultur schreibt, ist Meisterklasse. Dabei habe ich noch bis vor kurzem die Bücher des Franzosen nur mit hoch gezogener Augenbraue aus der Ferne „gewürdigt“. Er gilt als Exzentriker, seine Romane verband ich immer mit dem Adjektiv „schlüpfrig“. Nun wurde ich eines Besseren belehrt und bitte um Vergebung mit der Bitte: Lesen Sie dieses Buch! Es ist ein Meisterwerk. Nur Meisterwerke können sowohl unterhalten als auch belehren, einen an der Seele packen. Mit „Karte und Gebiete“ kann man zugleich schmunzeln und grübeln. Der Protagonist Jed ist zudem so gestaltet mit seinen genialen Fähigkeiten und seinen menschlichen Ecken und Kanten, dass er dem Leser schon irgendwie sympatisch erscheint. Und auch das Spiegelbild (?) des Autors muss man irgendwie mögen ob seiner Exzentrität. An diese Seite stellt Houellebecq, der reale, eine ganze Reihe interessanter Charaktere, wie Jeds erfolgreiche, aber auch gefühlvolle Freundin Olga oder Kommissar Jasselin, der sich auf die Suche nach dem Mörder Houellebecqs, dem fiktiven, begibt.
Mit  Beklemmung liest man dagegen von den Schattenseiten und den finsteren Ecken der modernen Gesellschaft, über die in sich verliebte High Society, die aus Raffgier krisengeschüttelte Finanzwelt und ja, die unvorstellbare Macht der Kunst, deren Preise oftmals in die Verhältnislosigkeit abdriften.

„Karte und Gebiet“ vereint in sich so verschiedene Genres: Das Buch ist melancholischer Künstler- und Entwicklungsroman und zugleich kritisches Abbild der Gegenwart und entwickelt sich im letzten Drittel gar zu einem spannenden Krimi, der an einigen Stellen leicht ironische Züge aufweist. Dass Michel Houellebecq für diesen Roman schließlich mit einem der wichtigsten französischen Literaturpreise, dem Prix Goncourt, geehrt wurde, erscheint wie ein selbstverständliches Naturgesetz oder so eindeutig wie eine mit Akribie gefertigte Straßenkarte.   

Der Roman „Karte und Gebiet“ von Michel Houellebecq erschien 2011 in der Übersetzung aus dem Französischen von Uli Wittmann im Dumont-Verlag.
416 Seiten, 22,99 Euro (als Taschenbuch 9,99 Euro)

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