„In der Stadt nennt man mich die Bienenfrau. Was könnte ich anders sein.“
Unser Leben wird zunehmend technisierter und hektischer. Es scheint sich von der Natur und ihren Regeln zu entfernen, ja abzuwenden. Wir scheinen die Verbindung zu ihr zu verlieren. Die Urbanisierung schreitet fort: Die Menschen ziehen in die Stadt, ganze Landstriche veröden. Doch seit einiger Zeit ist ein Gegentrend zu spüren. Familien entscheiden sich wieder für ein Leben auf dem Land. In Städten entstehen zahlreiche Gärten, die liebevoll gepflegt werden, findet auch die Imkerei mehr und mehr Zuspruch. Man kann es als Rückbesinnung bezeichnen, die schon einige Zeit vor dem aktuellen Diskurs zum Umweltschutz ihren erfreulichen Lauf nahm. Nicht nur Ratgeber jeglicher Art feiern weiterhin eine Hochkonjunktur. Die literarische Gattung des Nature Writing und die Werke ihrer Vertreter werden zunehmend wiederentdeckt. Wer sich mit diesen beschäftigen will, kommt an dem wundervollen Buch „Leben auf dem Land“ der Amerikanerin Sue Hubbell einfach nicht vorbei.
42 Hektar Land und 300 Bienenstöcke
Erschienen ist der Band bereits 1986 im Original mit dem Titel „A Country Year. Living the Questions“. Hubbell kam 1935 als Tochter eines Botanikers auf die Welt. Sie studierte Biologie und arbeitete als Bibliothekarin an der Brown University in Providence (Rhode Island). 1972 kehrte sie mit ihrem Mann der Stadt den Rücken. Das Paar zog auf eine entlegene Farm im Hochland der Ozark Mountains im Bundesstaat Missouri im Mittleren Westen der USA und betrieb gemeinsam eine Imkerei, die Sue Hubbell schließlich fortführte, nachdem sich das Paar getrennt hat. Sie ist fortan Herrin von 42 Hektar Land und 300 Bienenstöcken, ihr Zuhause liegt inmitten eines Naturschutzgebietes, umgeben von Wald, Fluss und Bergen. Zu ihren Nachbarn zählen Indigofinken, Fledermäuse, Opossums und Kojoten. Ein anstrengendes, forderndes Leben, dem sie indes nie müde wurde. Vielmehr bereitete es ihr unvergessliche Erlebnisse und Erfahrungen, die sie in ihrem Band „Leben auf dem Land“ niederschrieb und damit weitergegeben hat.
Die Lektüre führt durch den Zeitenlauf eines Jahres – vom Frühling und Sommer über Herbst und Winter bis in das nächste Frühjahr. Jede Jahreszeit hat ihre eigenen Erscheinungen und Wettereinflüsse. Hubbell erzählt von ihrer Arbeit, der Pflege der Bienenstöcke, die staunenswerten Wunder der Bienenwelt, den weiten Touren mit den in die Jahre gekommenen Pick Up über das Land, um den Honig schließlich an den Mann zu bringen. Mit der Zeit hat sie sich beachtliches handwerkliches Können angeeignet. Ihr sehr einfaches Leben ist eine einzige große Lektion, die sie mit äußerster Entschlossenheit, aber auch einer gewissen Gelassenheit annimmt. Nie beklagt sie sich über Schwierigkeiten, böse Überraschungen. Giftige Tiere wie die Braune Spinne und die Kupferkopfschlange sieht sie nicht als Feinde an, die es zu beseitigen gilt. Vielmehr begegnet sie ihnen mit gehörigem Respekt. Zwischen den Beschreibungen ihres Alltags und der Natur, von der sie umgeben wird, finden sich immer wieder persönliche Erinnerungen – an ihre Kindheit, an die Ehe mit Paul, ihrem Mann. Dabei ist sie nie allein. Sie hat Nachbarn, jeden Donnerstag findet sich die sogenannte Sherry-Runde ein, zudem genießt sie die Geselligkeit im Imkerverband. Der Leser spürt, diese Frau hat ihren Platz, ihr Leben gefunden.
„Aber in so engem, vertrautem Kontakt mit Lebewesen zu stehen, die so anders strukturiert sind und auf so andere Weise durchs Leben kommen als wir Menschen, das ist, als wäre ich eine Besucherin in einer fremden, aber unsagbar verzaubernden Welt.“
Bereitet dieses Landleben Hubbell eine unermessliche und einzigartige Erfahrung, wird dieses schmale Büchlein von knapp 270 Seiten zu einer großen Lehrstunde für den Leser. Er erhält nicht nur Einblicke in die Imkerei und die Bienenwelt, sondern auch in die Natur der Ozark Mountains. Er erfährt zudem, welche Kraft und Lebensfreude sich aus der Achtsamkeit schöpfen lässt. Hubbell widmet sich – ob direkt in und an ihrem Haus oder auf Wanderungen – den Wandlungen in der Natur, dem Verhalten der noch so kleinsten und noch so unauffälligsten Tiere. Sie blickt nie auf die Uhr, genießt diese Momente und Begegnungen mit Konzentration und Neugierde. Jedes Lebewesen, dessen Dasein sie nie hinterfragt, hat seinen Platz, seine Aufgabe. Trotz ihrer Erfahrungen mit den Bienen zeigt sie sich noch immer verblüfft über ihre einzigartigen Fähigkeiten. Heitere Passagen mit einigem Augenzwinkern regen zum Schmunzeln an, dem Thema Land und Stadt und dem Eingreifen des Menschen in die Natur widmet sie sich hingegen durchaus ernsthaft und kritisch.
Beiträge für Zeitschriften
„Leben auf dem Land“ sowie der zwei Jahre später erschienene Band „A Book Of Bees“ wurde von der New York Times Review als Notable Books of the Year ausgezeichnet. Hubbell verfasste zudem Beiträge für Zeitschriften, unter anderem für The New Yorker. Im vergangenen Jahr, am 13. Oktober, verstarb Sue Hubbell im Alter von 83 Jahren. Ihr Buch „Leben auf dem Land“ bereitet eine sehr sinnliche und bereichernde Lektüre. In seinem Nachwort beschreibt Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio Hubbels Werk als ein Buch, das „Poesie atmet“, „sichtbare und unsichtbare Geheimnisse“ schildert, das „Glück beschert“. Ein Herzensbuch also, das sehr viel über Demut und Achtsamkeit erzählt und im Regal eines naturliebenden Menschen nicht fehlen sollte. Kauft und verschenkt es!
Sue Hubbell: „Leben auf dem Land“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Barbara Heller, mit einem Nachwort von Jean-Marie Gustave Le Clézio; 272 Seiten, 12 Euro
Bild von Martin Tajmr auf Pixabay
klingt auch wieder sehr interessant…
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vielen Dank für Deinen Kommentar. Freut mich sehr, wenn ich eine Anregung geben konnte. Viele Grüße
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