Gunnar Staalesen – „Todesmörder“

„Unter all dem ahnte ich ein Muster, eine schwache Skizze von etwas Ungesagtem und Ungesehenen, das langsam an die Oberfläche stieg.“

Jedes Jahr erscheinen neue aufsteigende Sterne am Krimihimmel Skandinaviens. Beim Stöbern durch die Krimiregale und -tische diverser Buchhandlungen gibt es regelmäßig spannende Entdeckungen zu machen. Doch im Jahr der Frankfurter Buchmesse mit Norwegen als Gastland machte ich einen ganz anderen Fund: Im Polar Verlag erschien mit „Todesmörder“ der bereits 15. Roman um den charismatischen Privatermittler Varg Veum aus der Feder des wohl dienstältesten und mehrfach preisgekrönten norwegischen Krimiautoren Gunnar Staalesen. Eine besondere Entdeckung für mich!

Zeitreise in die 1970er-Jahre

Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass Veums Fälle bereits in der Vergangenheit über die Mattscheibe des deutschen Fernsehens gelaufen sind. Nur leider ist das an mir völlig vorbeigegangen; da ich ohne Fernseher und damit ohne Fernsehzeitschrift lebe, nur ab und an in der Mediathek diverser Sender blicke. Seine „Geburtsstunde“ erlebte Varg Veum schon im Jahr 1977 in dem Kriminalroman „Das Haus mit der grünen Tür“ (im Original: „Bukken til havresekken“). In die 1970er-Jahre führt auch der nunmehr 15. Fall des Privatermittlers, der in Norwegen bereits 2006 unter dem Titel „Dødens drabanter“ erschienen ist. Ein Anruf von Veums einstiger Kollegin lässt zwiespältige Erinnerungen an seine Zeit als Sozialarbeiter für das Jugendamt aufkommen. Damals nahm das Amt ein Kleinkind namens Janni in Obhut. Dessen Mutter war drogenabhängig und mit der Betreuung und Erziehung ihres Sohnes völlig überfordert, zudem war deren Lebensgefährte polizeibekannt und gewalttätig.

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Nunmehr ist das Kind von einst erwachsen – und aus der Haft entlassen. Janni oder Jan Egil war als Jugendlicher für den brutalen Mord an seinen Pflegeeltern zu einer mehrjährigen Strafe verurteilt worden – trotz eines erfahrenen und erfolgreichen Anwalts. Nun will er dieses Unrecht rächen und all jene töten, die ihn damals hinter Gittern gebracht und verraten haben. Auch Veum, der seinen Job als Sozialarbeiter an den Nagel gehangen hat und seit einiger Zeit mehr schlecht als recht als Privatermittler tätig ist, steht auf dieser vermeintlichen Todesliste. Doch war Jan Egil wirklich ein Mörder und Jahre zuvor auch schuld am Tod seines Adoptivvaters? Der kam unter mysteriösen Umständen im eigenen Haus ums Leben, als Janni gerade mal sechs Jahre alt war.

„Hoch oben über den Bergen war der Mond aufgetaucht, bleicher Gefährte der Erde, fern und allein in seinem ewigen Kreisen um all das Chaos und all die Unruhe hier unten. Es kam mir in den Sinn, dass der Mond keineswegs der Einzige war. Viele von uns kreisen unerbittlich um das immergleiche Chaos, die immergleiche Unruhe, ohne in das Geschehen eingreifen und das Schicksal wenden zu können. Wir alle waren Gefährten des Todes.“

„Todesmörder“ bereitet einen kniffligen Fall in einer komplexen Handlung auf. Es gibt Zeitsprünge, die zu den damaligen Geschehnissen rund um die Morde des Adoptivvaters und der späteren Pflegeeltern führen. Die kriminellen Machenschaften einer Alkoholschmuggler-Bande, die im Westen Norwegens ihr Unwesen treibt, spielen eine nicht geringe Rolle. Neben Bergen, der Heimatstadt des Autors, sind die Hauptstadt Oslo und die ländlich geprägte Provinz Sogn og Fjordane Schauplätze der Handlung. Wer einen blutigen und actionreichen Kriminalroman erwartet, wird indes trotz der detailreichen Schilderung des brutalen Mordes an den Pflegeeltern und eines rasanten Showdowns am Ende des Romans enttäuscht, vielleicht aber auch erfreut sein. Staalesen richtet den Fokus seiner Werke vor allem inhaltlich und keineswegs auf billige Effekte aus: Der 1947 geborene Norweger, der auch einige Zeit als Dramaturg am Theater in Bergen gewirkt hat, gilt als jener Autor, der den Sozialrealismus in die Kriminalliteratur seines Landes eingeführt hat. So erzählt „Todesmörder“ die Geschichte einer tragischen und unheilvollen Kindheit und eines Jungen, der bereits vor seiner Verurteilung wegen seines sozialen Umfeldes und seiner psychischen Eigenheiten von Polizei und Justiz übereilt als Mörder abgestempelt wird. Nur Veum, dem das Schicksal des Jungen zu Herzen geht, glaubt nicht wirklich an dessen Schuld.

Auch das Leben des Privatermittlers, der von seinen Erlebnissen und Gedanken als Ich-Erzähler selbst berichtet, ist nicht unbedingt frei von Sorgen. Er lebt allein, ist geschieden und Vater eines Sohnes. Sein Blick auf das Leben ist empfindsam und melancholisch, doch nicht frei von Humor, wenn er beispielsweise die Polizei auf die Schippe nimmt. Veum ist klug, neugierig und eloquent, schon als Sozialarbeiter hat er die richtigen Fragen zur richtigen Zeit stellen können und auf private Weise ermittelt. Lebendige Dialoge sind das Ergebnis. Zudem liebt Veum die Frauen und betrachtet deren körperliche Vorzüge oftmals sehr genau, was indes weibliche Leser wohl ab und an leicht nerven könnte.

Zweimal Riverton-Preisträger

Mittlerweile sind in Norwegen in den vergangenen zehn Jahren sechs weitere Veum-Fälle erschienen; zuletzt 2018 im renommierten Verlag Gyldendal der Roman „Utenfor er hundene“. Nicht nur deshalb wären weitere Übersetzungen ins Deutsche überaus wünschenswert. Staalesen hat bereits zweimal den Riverton-Preis erhalten. Benannt nach dem Norweger und Begründer des norwegischen Kriminalromans Sven Elvestad (1884 – 1934), der unter dem Pseudonym Stein Riverton publiziert hat, wird die Ehrung seit 1972 alljährlich für das beste kriminalliterarische Werk vergeben. Neben Jon Michelet (1944–2018) ist dies bisher eben nur Staalesen zweimal im Laufe der Karriere gelungen.


Gunnar Staalesen: „Todesmörder“, erschienen im Polar Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Nils Hinnerk Schulz, herausgegeben von Jürgen Ruckh; 420 Seiten, 22 Euro

Bild von PublicDomainPictures auf Pixabay

 

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