Gusel Jachina – „Wolgakinder“

„Ihr kleines Leben verlief nach eigenen Gesetzen. Auch die Zeit verging dort anders – langsam und kaum spürbar.“

Im 18. Jahrhundert verließen sie ihre Heimat. Sie folgten dem Ruf der russischen Zarin Katharina der Großen (1729 – 1796). Das große weite Reich im Osten und die Gestade des längsten Flusses der Welt sollten ihre neue Heimat werden: In den folgenden Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten erlebten die Wolgadeutschen eine wechselvolle Geschichte. Immer wieder trieb es sie in andere Gegenden der Erde, immer wieder waren sie Spielball der deutsch-russischen Politik und Repressalien ausgesetzt. Mit ihrem neuen Roman „Wolgakinder“ erinnert die russisch-tartarische Autorin und Filmemacherin Gusel Jachina auf literarische Weise an die Historie der Volksgruppe und die Nachfahren der einstigen Einwanderer.   

Dem Großvater gewidmet

Bereits mit ihrem viel beachteten Debüt „Suleika öffnet die Augen“ blickte die 1977 in Kasan geborene Jachina zurück in die Geschichte. Stellte sie dort eine Frau in den Mittelpunkt, um die Themen Stalinismus, Deportation und Umsiedlung sowie die unmenschlichen Bedingungen in den sibirischen Straflagern speziell aus der weiblichen Sicht zu beleuchten und literarisch zu verarbeiten, ist es nun ein Dorf und ein Mann, an dessen Leben sie die Historie der Wolgadeutschen erzählt. Geht ihr Erstlingswerk auf das Schicksal ihrer tartarischen Großmutter zurück, hat sie ihren zweiten Roman ihrem Großvater, der als Deutschlehrer in einer Dorfschule wirkte, gewidmet.

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Im Zentrum des Geschehens steht Jakob Bach, ein stiller, fleißiger und der deutschen Literatur und Sprache sehr verbundener Mann, der eine spezielle Vorliebe für Gewitter pflegt. Er tut seine Pflicht, auch als er mit Klara Grimm die Tochter eines Bauern, der auf der anderen Seite der breiten Wolga in einem großen Gehöft lebt, privat unterrichten soll. Täglich wird er mit dem Boot von seinem Heimatort Gnadental ans andere Ufer des breiten Stromes übergesetzt. Zu Beginn machen die Schüchternheit der jungen Frau, die hinter einem Wandschirm verborgen ist,  den Unterricht nicht leicht. Doch mit der Zeit und trotz des Altersunterschiedes werden Lehrer und Schülerin zu engen Vertrauten. Als Vater Grimm samt Tochter und der Bediensteten nach Deutschland zurückgehen will, flieht Klara. Gemeinsam bewohnen und bewirtschaften sie fortan das Gehöft. Eines Tages kommen Soldaten auf das Gut. Sie vergewaltigen Klara, die daraufhin schwanger wird. Bei der Geburt stirbt sie. Jakob verstummt und zieht das Kind, das er liebevoll Annchen nennt, allein auf. Das Mädchen wächst ohne Sprache auf, die Jahre ziehen ins Land. Die großen politischen Veränderungen machen keinen Halt vor der kleinen Familie, die abseits der Gesellschaft lebt und mit Wassja, einen jungen Landstreicher kirgisischer Abstammung, unerhofft Zuwachs bekommt.

Märchenhafter Ton

Wer Jachins Debüt kennt, wird nun in ihrem neuen Roman einen ganz anderen Stil und Ton kennenlernen. Es ist ein sehr märchenhafter, das Erzählen ein sehr detailreiches. Die  Ausgestaltung der Figuren, der Landschaft und der Szenen wirkt bildreich, genau und sinnlich. Perfektes Kopfkino! Immer wieder finden sich Anklänge an die Welt der Märchen. Klaras Familienname erinnert an die großen deutschen Mächensammler und Sprachwissenschaftler Wilhelm und Jakob Grimm. Die Zahl sieben taucht mehrfach auf. Die ungemein berührende Szene, als Jakob seine geliebte Frau in das Eishaus bringt, erinnert an „Schneewittchen“. Der Lehrer beginnt selbst Märchen zu schreiben, die der Dorfsowjet Hoffmann von Gnadental zu Zwecken der politischen Agitation an die Zeitung gibt und dort viele Leser findet. Die Geschichten sind eine Art Bezahlung. Bach hatte, um Annchen ernähren zu können, des nachts Ziegenmilch aus der ortsansässigen Kolchose gestohlen. Bei der Lektüre dachte ich oft an den großartigen Roman „Der begrabene Riese“ des Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro, der darin das Thema Krieg und Erinnerung auf fantasievolle und märchenhafte Art und Weise ausdrucksstark verarbeitet.

„Die Lieder, die Klara sang, die Schwänke, die sie erzählte, all die Sprichwörter und Redensarten, all die einfachen Märchen und Geschichten hingegen gehörten zum Gehöft wie das Gras oder die Spinnweben, wie der Geruch von Wasser und Steinen. Sie passten zu diesem einsamen Leben und wuchsen aus ihm heraus.“

In Jachinas Roman ist es der Stalinismus mit all seinen entsetzlichen Erscheinungen und Folgen für das Land und seine Menschen. Der Diktator hat in einer Handvoll Szenen, die über den Roman verstreut sind, seinen Auftritt als Romanfigur. Ob an der Seite des sterbenden Lenin, ob als Passagier im Zug von Moskau nach Pokrowsk, dem Zentrum der Wolgadeutschen. Es sind bizarr und befremdlich wirkende Szenen, die einen spürbaren Kontrast zur Handlung, die das zurückgezogene und einfache Leben Jakobs schildert. Stalin wird als ER bezeichnet und zu einem Gott erhoben.

Etwas zu viel Pathos

Obgleich die Autorin in ihrem Roman sehr viel Detailliebe beweist, deutet sie in einigen Szenen das Geschehen nur an beziehungsweise verweist nicht genau auf einen historischen Kontext und die damaligen Geschehnisse, die man jedoch erkennt, wenn man sich eingehender mit der Geschichte der Wolgadeutschen beschäftigt. Jakob wird Zeuge von Leid, von Leben und Tod sowie des perfiden Machtgefüges des Kommunismus. Jedem Jahr gibt er einen besonderen Name: 1920 ist das Jahr der Ungeborenen Kälber, 1931 das Jahr der Großen Lüge, 1934 das Jahr des Großen Kampfes. Meisterhaft gelingt es Jachina, die große Geschichte im Leben des einfachen Mannes, der trotz seines einsiedlerischen Lebens von den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen nicht unberüht bleibt, zu letzt sogar auf tragische Weise zu derem Opfer wird, widerzuspiegeln.

Etwas weniger Pathos hätte dem Roman, der ab und an auch etwas überbordernd wirkt, indes gut getan. Trotz alledem ist „Wolgakinder“ ein überaus lesenswerter, melancholischer und zutiefst menschlicher Roman, dessen besonderen Helden mit all seinen speziellen Eigenheiten und seinem großen Herz der Leser nicht so schnell vergessen wird.


Gusel Jachina: „Wolgakinder“, erschienen im Aufbau Verlag, in der Übersetzung aus dem Russischen von Helmut Ettinger; 591 Seiten, 24 Euro

Bild von Yevgeniy BRB auf Pixabay

Ein Kommentar zu „Gusel Jachina – „Wolgakinder“

  1. Diese Märchenanteile gab es ja ansatzweise auch in Suleika öffnet die Augen. Da waren es Naturgeister. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie davon auch in der Lesung im Brechtforum erzählt hatte: Großmutters Geschichten …
    Viele Grüße!

    Gefällt 2 Personen

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