„Staat an Schriftsteller: Hilf uns aus der Patsche, schreib einen Roman.“
Bereits vor einiger Zeit schrieb ich in dem Blogbeitrag zu Colson Whiteheads Roman „Die Nickel Boys“ den Gedanken nieder, dass es für das literarische Erzählen oft nicht einmal der Fantasie bedarf, dass Geschichten vielmehr real sind oder waren und Eingang in die Historie eines Landes, einer Stadt gefunden haben. Dies beweist auch das neue Buch des Münchner Schriftstellers Christoph Poschenrieder der ganz im Gegensatz zum Titel „Der unsichtbare Roman“ sicht- und greifbar ist, mehr noch: eine spannende eindrückliche Lektüre bietet.
„Gigantischer Schlamassel“
Für dieses Werk erinnert Poschenrieder an einen nahezu vergessenen Kollegen und ein nahezu unglaubliches Geschehen: Der österreichische Schriftsteller Gustav Meyrink, 1868 in Wien geboren, damals bekannt durch seinen Roman „Der Golem“, erhält vom Auswärtigen Amt des Deutschen Kaiserreiches den Auftrag, ein Buch über den Ersten Weltkrieg zu schreiben. Das Werk soll den Freimaurern die Schuld an dem „gigantischen Schlamassel“, wie es an einer Stelle im Roman heißt, geben. Meyrink nimmt den Auftrag an, als das grausamen Schlachten an den Fronten, das letztlich zwischen 1914 und 1918 rund 17 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, zwar noch immer läuft, aber allmählich vor seinem Ende steht. Das Deutsche Kaisereich braucht angesichts einer drohenden Niederlage einen Sündenbock.
Meyrink reist nach Berlin, trifft sich mit dem hochrangigen Beamten Hahn. Doch das Schreiben will so recht nicht gelingen – obwohl er das Geld gebrauchen könnte, obwohl ein literarischer Erfolg Balsam für sein Ego wäre. Sein Stern als Schriftsteller ist bereits am Sinken, seine besten Jahre unter anderem auch als Satiriker für die renommierte Zeitschrift „Simpliccismus“ sind längst vorbei. Die Zeit vergeht, und sie verändert sich dramatisch. Fern der Schlachtfelder stehen die Zeichen auf Revolution. Die Stimmung im Land ist hochexplosiv: Meyrink trifft auf den Publizisten und politischen Aktivisten Erich Mühsam und verfolgt die Reden von Kurt Eisner, dem Anführer der Novemberrevolution und späteren ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, der sich für ein Ende des Krieges und gegen die Zensur ausspricht. Alle drei Männer sind interessante Figuren, wobei der Leser vor allem einen Einblick in die wechselvolle Biografie Meyrinks erhält, der sich nach Jahren als Banker in Prag in seine Villa am Starnberger See zurückgezogen hat. Hier absolviert er regelmäßig seine Yoga-Übungen, hier rudert er weltvergessen und die Stille suchend über den See. Regelmäßig ist er Gast der Münchner Caféhaus-Szene.
„Dann, denkt Meyrink, lasst euch hiermit sagen, dass zwischen Reden und Schreiben ein himmelweiter Unterschied ist. Und zwischen Schreiben und Schreiben erst recht. Und zuletzt zwischen Schreiben und Schweigen, obwohl ihn schon viele Bücher angeschwiegen haben.“
Poschenrieders schmaler, indes sehr dicht gestrickter Roman weckt das Interesse, sich mehr mit dieser Zeit und diesen Personen der Handlung zu widmen. Nahezu 102 Jahre sind seitdem vergangen, doch dieser Krieg ist noch immer präsent, gibt es noch immer besondere Geschehnisse aufzuarbeiten. Die damaligen Kriegsfolgen erfährt der Leser durch die Augen des Helden, der Heeresberichte liest, die Lazarettzüge sieht sowie die Anzeichen von Nationalismus und Antisemitismus erlebt. Poschenrieder hat intensiv recherchiert, mehrere Archive und Bibliotheken ausgesucht, so unter anderem das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde, die Bayerische Staatsbibliothek und die Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam. Der Roman versammelt Auszüge aus Schriften und Texten, die als Recherchenotizen benannt werden. Mehr und mehr verschwimmen Fiktion und historisches Vorbild, die erzählte Geschichte Meyrinks und dessen Schicksal mit der Arbeit Poschenrieders an seinem eigenen Werk. In seinem Nachwort bemerkt er: „Offenbar hat mich schon früh die Linie interessiert, die Fakt und Fiktion, Vertrauen vom Zweifel, Realität von Phantasie trennt. Falls sie überhaupt etwas trennt und nicht eher verbindet.“
Rolle des Künstlers in der Gesellschaft
Das Buch hinterfragt gezielt anhand der Figur Meyrinks die Rolle und Bedeutung des Künstlers in der Gesellschaft, seine mögliche Freiheit und Abhängigkeit sowie das Verhältnis zwischen Politik und Propaganda. Trotz des ernsten Themas und des Rückblicks auf eine folgenreiche und verheerende Zeit spart Poschenrieder nicht an Humor. So wie Meyrink zynisch auf die literarische Szene blickt, sich mehrfach fragt, warum nicht ein Ganghofer und einer der Manns dieses Auftragswerk hätte schreiben können, ist auch die Darstellung des Helden nicht frei von ironischen Seitenhieben.
Schließlich geht der Auftrag des Auswärtigen Amtes weiter an Friedrich Wichtl, dessen Buch letztlich den Nährstoff für die freimauerisch-jüdische Weltverschwörung bildet und Beweis ist, wie Literatur als Propaganda unheilvoll missbraucht werden kann. „Der unsichtbare Roman“, sprachlich überaus excellent, lässt auch da die Gedanken weiter kreisen. Einmal mehr beweist Poschenrieder sein Können, interessante, kaum bekannte historische Stoffe und Fragen auf besondere Weise literarisch zu verarbeiten.
Christoph Poschenrieder: „Der unsichtbare Roman“, erschienen im Diogenes Verlag; 272 Seiten, 24 Euro