„Wir sind nichts weiter als kleine Teile in einem großen, ineinander verwobenen Universum.“
Mehr als 70 Jahre hat es gedauert, bis ihr Name in die breite Öffentlichkeit der Kunstwelt gelangte. Als Hilma af Klint 1944 starb, hinterließ sie ein riesiges wie vielfältiges Werk: 1.300 Gemälde, Skizzen und Aquarelle, 26.000 Seiten an Notizen. Ein reiches Œuvre, das allerdings nahezu unbekannt war, bis eine Ausstellung im renommierten New Yorker Guggenheim-Museum 2018 die Aufmerksamkeit auf die schwedische Künstlerin lenkte. Diese Schau, die mit rund 600.000 Gästen einen Besucherrekord einbrachte, ist Dreh- und Angelpunkt der Romanbiografie „Hilma“, die von einem schwedisch-amerikanischen Schriftstellerinnen-Trio geschrieben wurde.
Fiktive Figuren treffen auf reale Personen
Sofia Lundberg, Alyson Richmann und M. J. Rose – alle samt renommierte Autorinnen – nahmen sich dem Leben und Schaffen der Schwedin sowie deren Wiederentdeckung im Jahr 2018 an. Ihr Werk wird von zwei verschiedenen zeitlichen Ebenen bestimmt: den Jahren 1896 bis 1933 sowie die Zeit, in der die Ausstellung ihren Lauf nahm. Neben den realen Figuren Hilma af Klint sowie ihre Freundinnen Anna Cassel, Sigrid Hedman, Cornelia Cederberg und Mathilda Nilsson, die die spiritistische Gruppe „De Fem“ bilden, stehen mehrere fiktive Protagonisten im Mittelpunkt der Handlung: der Kunsthistoriker und Kurator Elliot und seine einstige große Liebe Blythe. Beide treffen sich in Stockholm wieder, Jahre nachdem ihre Beziehung auseinandergegangen ist. Sie ist Expertin in puncto af Klint, er hat die Idee für eine Ausstellung mit Werken der bis dato kaum bekannten Künstlerin, nachdem eine andere Schau nicht stattfinden kann.
Der Leser springt so nicht nur zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen, allmählich setzt sich auch ein Bild der Künstlerin zusammen, die mittlerweile als Wegbereiterin der abstrakten Kunst gilt. Schon vor Wassily Kandinsky schuf sie gegenstandslose Werke – allerdings mit einer speziellen Besonderheit. Af Klint holte sich ihre Inspiration aus einer besonderen Quelle. Bereits als Jugendliche nahm sie an spiritistischen Séancen teil und zählte zu einem festen Kreis. Ihren Zugang zur Spiritualität fand sie nach dem frühen Tod ihrer Schwester Hermina, die im Alter von nur zehn Jahren starb. Sie hörte Stimmen und setzte deren Forderungen in Kunst um.
Ihrer Zeit weit voraus
Das Thema Jenseits und die Verbindung zu den Toten beschäftigte sie. Die Spiritualität und der Gedanke, das Materie und Geist sich ergänzen, begleiteten sie nahezu ein Leben lang. Gerade diesen faszinierenden Aspekt arbeitet der Roman, der auch auf die bekanntesten Werke eingeht, sehr gut heraus, wenn er den spirituellen Kreis der Freundinnen um af Klint beschreibt. In ihren Bildern verarbeitet sie ihre Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Fragen und Themen, für Farben werden oftmals Blüten und Blätter verarbeitet.

Und er geht dabei noch einen Schritt weiter: Er hinterfragt, inwieweit die Gefährtinnen nicht sogar an den Bildern af Klints mitgewirkt haben. Bilder, die die Schwedin im Verlauf ihres Lebens nicht der Öffentlichkeit zeigte, sondern versteckt hielt, bis der richtige Zeitpunkt kommen sollte. Immer wieder sprach sie davon, dass die Welt noch nicht reif sei für ihre Werke. Hineingeboren in eine Zeit, in der kaum eine Künstlerin ernsthaft wahrgenommen wurde, geschweige denn einen Zugang zu renommierten Akademien trotz Talent und Ehrgeiz erhielt, wenngleich dies der Schwedin gelang, die, Tochter eines Marine-Offiziers, an der Schwedischen Kunsthochschule lernen konnte.
„Ich muss daran glauben, dass es nur ein kleiner Rückschritt ist und dass diese Bilder eines Tages an den Wänden eines Tempels hängen werden.“
„Hilma“ erzählt zudem zwei Liebesgeschichten: die zwischen Elliot und seiner einstigen großen Liebe, die vor ihm ein nicht unwesentliches Geheimnis verbirgt, und jene zwischen Hilma af Klint und Anna Cassel, die ihre Freundin in ihrem kreativen Schaffen als Tochter aus gutem Hause auch finanziell unterstützt. Beide hegen tiefe Gefühle füreinander, beide leben auch miteinander. Hilma ist davon überzeugt, dass sie männliche Eigenschaften in sich trägt. Sie wird in diesem Buch als sehr resolut, selbstbewusst und bestimmend dargestellt, die viel Einfluss auf den Kreis hat. Eine Frau, die wohl nicht nur mit ihrer Kunst in der falschen Zeit lebte.
Tipp: grossartige Biografie von Julia Voss
Dem Roman gelingt der schwierige Spagat zwischen literarischer Unterhaltung und dem Anspruch, sich dem Leben und dem Wesen der Künstlerin auf eine gewisse ernsthafte Weise zu widmen, wenngleich in manchen Szenen das Pathos nicht fehlen darf. In die Handlung taucht der Leser sehr schnell ein, der Sog wird schnell spürbar. Wissenslücken im realen Hintergrund werden durch Fiktion ausgefüllt. Wer sich intensiver mit Hilma af Klint, ihrem Leben und Schaffen, beschäftigen will, dem sei an dieser Stelle die herausragende Biografie von Julia Voss ans Herz gelegt. Die Autorin hat einen außerordentlichen Einsatz für ihre Recherche betrieben. Sie lernte Schwedisch, besuchte Archive und widmete sich eben jenen zu Beginn erwähnten 26.000 Seiten an Notizbüchern und Aufzeichnungen.
Heute sind die Werke von Hilma af Klint in Galerien und Museen zu finden, so in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Und Fans können sich auf das kommende Jahr besonders freuen: Dann zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf vom 16. März bis zum 11. August 2024 die Ausstellung „Hilma af Klint und Wassily Kandinsky. Träume von der Zukunft“. Wie sich im Übrigen beide begegnet sein könnten – ein reales Zusammentreffen in Schweden wird für möglich, sogar für wahrscheinlich gehalten -, auch darüber erzählt der Roman der drei Autorinnen.
Sofia Lundberg/Alyson Richman/M. J. Rose: „Hilma“, erschienen im Piper Verlag, aus dem amerikanischen Englisch von Karin Dufner, 352 Seiten, 24 Euro
Foto von Kerensa Pickett auf Unsplash


