Anthony McCarten – „Going Zero“

„Es gibt keine Geheimnisse mehr. Wir alle stehen heute nackt im grellen Scheinwerferlicht.“

Noch vor einigen Jahren recht naiv, wunderte ich mich über Online-Werbung. Ich hatte zu Hause an einem Abend nach einer neuen Waschmaschine gegoogelt. Tags darauf konnte ich mich vor Angeboten nicht retten, als ich im Büro das Internet öffnete. Überall schwirrten Anzeigen auf den Seiten, die ich aufrief. Zweifellos: Wir sind gläsern. Alles, was wir tun, was wir in das weltweite Netz hineintragen, wird gesammelt. Nicht nur Krimi-Serien zeigen uns, was mittlerweile Behörden an Daten selbst rein legal zusammentragen können. Weit beängstigender sind die Möglichkeiten und Wege der Tech-Konzerne. Ein erschreckendes Bild zeigt uns der Neuseeländer Anthony McCarten in seinem neuen Roman „Going Zero“ auf, wobei er das Thema der Überwachung mit einem weiteren größeren Problem auf beeindruckende Weise verknüpft.

Drei Millionen Euro Siegprämie

Die Story ist schnell erzählt: Der stink- wie einflussreiche Social-Media-Mogul Cy Baxter geht einen Pakt mit der CIA ein. Gemeinsam führen sie einen Wettbewerb durch, einen Beta-Test, um die Möglichkeiten von Baxters Unternehmen „Fusion“ auf Herz und Nieren zu prüfen. Denn der hofft auf einen ergiebigen Auftrag seitens des US-amerikanischen Geheimdienstes. Zehn Kandidaten werden ausgewählt. Sie sollen untertauchen – und von Baxters Mitarbeitern gefunden werden. Wer entdeckt wird, fliegt raus. Wer zuletzt übrigbleibt, gewinnt drei Millionen Dollar.

20230622_174104

Baxter glaubt, leichtes Spiel zu haben. Doch er hat die Rechnung ohne die intelligente Kaitlyn, eine Bibliothekarin aus Boston, gemacht, die als Zero 10 startet. Während die anderen Kandidaten nacheinander recht schnell ausfindig gemacht werden, verzweifelt Baxter an der Kandidatin mit der Nummer zehn. Denn sie hat ihre Teilnahme nicht nur vorausschauend geplant, sie treibt ein anderes Motiv an. So wie verletzte Tiere unberechenbar sind, sollte man auch verletzte Menschen nicht unterschätzen. Und Kaitlyn trägt eine tiefe Wunde in sich – nach einem sehr schmerzhaften Verlust.

„Wenn die Wahrheit klingt wie eine Wahnvorstellung, was zum Teufel soll man dann machen.“

Anthony McCarten, 1961 im neuseeländischen New Plymouth geboren, arbeitete einige Jahre als Zeitungsreporter, ehe er unter anderem Kreatives Schreiben studierte. Als 25-Jähriger verfasste er mit Stephen Sinclair das Theaterstück „Ladies Night“, das zu einem internationalen Erfolg und in ein Dutzend Sprachen übersetzt wurde und 2001 den Molière-Preis gewann. Folgend schrieb McCarten neben Theaterstücken auch Lyrik, Romane und Drehbücher. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er als Drehbuchautor und Filmproduzent, mehrfach war er für einen Oscar nominiert. 2018 wurde McCarten in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences berufen, die unter anderem jährlich die Oscars vergibt.

Verrückte strategien

Dass „Going Zero“ durchaus eine wohl baldige Vorlage für einen spannenden Thriller abgeben könnte, merkt man schnell bei der Lektüre. Der Roman lebt von schnellen Szenerie-Wechseln, Cliffhangern sowie überraschenden Wendungen, die teilweise auch in der Entwicklung verschiedener Protagonisten angelegt sind. Erst nach und nach lüftet der Autor das Geheimnis um seine Heldin, die bewusst im Rampenlicht steht, während die anderen neun Kandidaten eher schnell abgehandelt werden, wobei sie jeweils dank einer eigenen kurzen Biografie plastisch werden und über eine teils auch verrückte Strategie verfügen, um den „Fusion“-Fahndern zu entkommen. Der eine verreist, der andere setzt eine falsche Wand in sein Haus, eine Kandidatin liebäugelt mit Kriminellen.

„Sie spürt geradezu, wie sie auf ihr herumkrabbeln, sie inspizieren, sie durchleuchten, ihr so nahe kommen, als tastete tatsächlich jemand ihren Körper ab (…).“

Wirken diese kleinen Stories nahezu erheiternd, wird an Kaitlyns Schicksal ein tiefer Abgrund deutlich, wird sie in ihrem verzweifelten Ringen, ihren Verfolgern zu entkommen und gleichzeitig, ihr eigentliches Ziel zu erreichen, zu einer Heldin der Herzen. Ihr Widersacher Baxter hingegen erscheint wie ein bitterböser Joker, der sich schließlich nicht nur Gesetzen und jeglicher Moral widersetzt, sondern auch mit Menschenleben spielt, während seine Partnerin Erika, mit der er „Fusion“ eigentlich in hehrer Absicht einst gegründet hatte, sich mehr und mehr von ihm abwendet.

Von schmutzigen Geschäften

Dabei erschrecken am Ende nicht die verschiedenen Möglichkeiten, wie „Fusion“ an Informationen und Daten herankommt oder dass das Unternehmen letztlich sogar die Regeln des Geheimdienstes aufweicht. Am Ende wird klar, wie traurig-entsetzlich es in der Welt zugeht: Dass die einen schmutzige Geschäfte mit von Despoten und Diktatoren geführten Ländern macht, während andere versuchen, jenen dunklen Mächten Einhalt zu gebieten – und dass Menschen in gewissen Positionen straffrei bleiben und nicht zur Verantwortung gezogen werden. Hält der überwiegende Teil des Plots ein straffes Tempo ein, wird der Ton gegen Ende ruhiger, der Leser kann so über das Gelesene nachdenken.

Doch am Ende wird noch etwas anderes klar, eine leicht helle Sicht auf die Dinge scheint durch: Jeder hat die Möglichkeit, aus dieser Datensammelwut-Welt auszusteigen. Auch wenn dafür Opfer nötig sind. McCarten hat einen spannenden Pageturner geschrieben, der einen lange beschäftigt, also bleibende Spuren hinterlässt. Ein Roman der Stunde und wohl auch weit darüber hinaus.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „Buch-Haltung“ und „Kaffeehaussitzer“.


Anthony McCarten: „Going Zero“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié; 464 Seiten, 25 Euro

Foto von ev auf Unsplash

Ein Kommentar zu „Anthony McCarten – „Going Zero“

Kommentar schreiben

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..