Polly Morland – „Ein glückliches Tal“

„Die Welt, wie sie damals war, ist die Welt, wie sie heute ist, das Vergehen der Zeit ist der Landschaft anscheinend gleichgültig.“ 

1967 erschien ein Buch, das bis heute in Großbritannien als Leitfaden sowie Inspiration für Ärzte und Pfleger gilt. In „A Fortunate Man“ beschreibt der Schriftsteller und Maler John Berger (1926-2017) sechs Wochen im Leben und Wirken des Landarztes John Sassall, den er mehrere Monate mit dem Fotografen Jean Mohr an seiner Seite begleitete. Der britischen Autorin und Dokumentarfilmerin Polly Morland fällt unverhofft und überraschend an einem Sommertag 2020 eine Taschenbuch-Ausgabe des Klassikers in die Hände, als sie das Haus ihrer Eltern ausräumt. Der Beginn einer Recherche und einer Fortsetzung, die nun von Sassalls Nachfolgerin erzählt.

Plädoyer für achtsames Miteinander

Es gibt Bücher, die kommen im richtigen Augenblick. Die Zeiten sind rau, die Stimmung angespannt, Sorgen begleiten uns. Morlands Werk strahlt eine berührende Wärme, Menschlichkeit und Hoffnung aus, das Buch appelliert an die Gemeinschaft und ein achtsames Miteinander, es tut gut zu lesen, wenngleich die Autorin Schicksale sowie Veränderungen und Herausforderungen unserer Zeit nicht ausblendet. Morland hat Sassalles Nachfolgerin bei ihrer Arbeit begleitet, diese ländlichen Gegend in den Midlands, in der die Menschen ein scheinbar unaufgeregtes Leben führen, intensiv in sich aufgenommen. Eine Gegend, die sie bereits kennt, die sie als ihr Zuhause bezeichnet.

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„Ein glückliches Tal“ ist eine faszinierende Mischung aus Reportage, Porträt, Milieustudie und Nature Writing. Morland beschreibt den Werdegang der Allgemeinmedizinerin genauso wie sie die Geschichten mehrerer Patienten erzählt. Da ist ein Landwirt, den erst starke Schmerzen in die Praxis treiben, wo bei ihm ein Oberschenkelhalsbruch festgestellt wird. Eine schwangere Frau erleidet plötzlich starke Blutungen. Einem Mann mit Lungenembolie rettet die Medizinerin mit ihrem Bauchgefühl das Leben. Hoffnung und Genesung, Krankheit, Tod und Trauer liegen oft beieinander und begleiten die Ärztin, die Verbindungen zwischen den Menschen schafft und eine Schlüsselrolle in der Gemeinschaft des Dorfes einnimmt.

„Die Ärztin mag Süßes. Es wird ein guter Tag , wenn sie weiß, sie hat noch eine halbvolle Papiertüte Zitronendrops in ihrer Arzttasche. Manchmal sagt sie, ihr Plan fürs Alter wäre, sich allein von Süßigkeiten und Hörbüchern zu ernähren.“

Dabei war der berufliche Werdegang der jungen Frau, die als Kind Pferde über alles liebte und Jockey werden wollte, durchaus kein geradliniger. Ein Cousin, der bereits Medizin studiert, gibt ihr letztlich den Anstoß für die ausschlaggebende Entscheidung, genauso wie sie die Lektüre von Bergers Klassiker inspiriert. Mitte der 90er-Jahre graduiert sie als Beste ihres Jahrgangs. In ihrer Zeit als Assistenzärztin sucht sie nach einem für sie stimmigen Fachgebiet. Nach herben Enttäuschungen in verschiedenen Bereichen eines Krankenhauses wird sie auf eine Stellenanzeige aufmerksam. Die allgemeinmedizinische Praxis in eben jenem Tal sucht eine neue Kraft.

Folgt ihrer BErufung

Verirrt sich die junge Ärztin in den ersten Wochen noch ab und an während ihrer Hausbesuche und stellen die engen Pfade sie vor einige Herausforderungen, kommt die Ärztin Stück für Stück an. Sie stellt sich ihrer Berufung, gründet eine Familie, wird Teil der Gemeinschaft, wenngleich der Beruf viel von ihr abverlangt. Sie hat wenig Privatleben und Freizeit, dafür lange Schichten. 2020 verändert die Corona-Pandemie alles. Es ist das Vertrauen und die Dankbarkeit der Patienten, die all das wieder aufwiegen. Ihre Familie, die Schönheit der Natur und manch Zitronendrops schenken ihre Kraft. Über den Blick in das Leben zweier Mediziner – auch von John Sassall, der einst als Marinearzt tätig war und 1947 ins Tal gekommen war, erzählt das Buch – hinaus, schildert Morland die Veränderungen des Gesundheitssystems und berichtet von den Möglichkeiten der heutigen Medizin.

„Das Land ist bis auf ein paar vom Herbst zurückgelassene goldfarbene Blätter dunkel und klammert sich an das letzte Tageslicht, der Fluss am Boden des Tals ist ein Abstrich des Himmels.“

Morland hat viele Jahre für das Fernsehen gearbeitet, unter anderem führte sie Regie bei mehreren Dokumentarfilmen. 2013 veröffentlichte sie ihr erstes Buch „The Society of Timid Souls: Or How to be Brave“, für das sie mit dem Jerwood Award ausgezeichnet wurde. 2022 erschien „Ein glückliches Tal“ im Original mit dem Titel „A Fortunate Woman: A Country Doctor’s Story“. Wie Bergers Vorgängerbuch enthält Morlands Band beeindruckende Schwarz-Weiß-Fotografien, geschaffen vom britischen Fotografen Richard Baker , die Szenen aus dem Berufs-Alltag, aber auch die Schönheit der Landschaft festhalten.

„Ein glückliches Tal“ erzählt meisterhaft davon, wie ein Mensch seine Aufgabe für das Leben findet und seiner Bestimmung folgt, welche Rolle eine Landärztin in einer ländlichen Gemeinschaft spielt und was diese letztlich auszeichnet. Manche Passagen sind sachlich, andere wiederum poetisch. Viele Patientenschicksale sind berührend – wie wiederum das enge Verhältnis zwischen Landärztin und Patienten sowie die Hingabe der Medizinerin für ihren Beruf und die Menschen Anerkennung und hohen Respekt verdienen.


Polly Morland: „Ein glückliches Tal. Die Geschichte einer Landärztin“, erschienen im S. Fischer Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Hans-Jürgen Balmes, mit Fotografien von Richard Baker; 304 Seiten, 22 Euro

Foto von Ian Cylkowski auf Unsplash

3 Kommentare zu „Polly Morland – „Ein glückliches Tal“

  1. Das habe ich gerade als Hörbuch beendet und es hat mir sehr gefallen! Genau wie Du geschrieben hast, es ist das richtige Buch zur richtigen Zeit. Ganz liebe Grüße, Sabine

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    1. Ja, das Buch hat mir auf irgendeine Weise gut getan, und irgendwie gab es mir auch wiederum die Hoffnung, dass mit den Menschen noch nicht alles verloren scheint, dass es noch immer Empathie und Hingabe gibt. Danke für Deinen Kommentar und ganz liebe Grüße zurück

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