„Keine Landschaft ist unschuldig.“
Es gibt Zugstrecken, die gelten als legendär. Die Transsibirische Eisenbahn gehört zweifellos dazu, wenn sie nicht sogar die Hitliste anführt. Auf einer Länge von mehr als 9.200 Kilometer erstrecken sich die Gleise von Moskau durch die Weiten Sibiriens bis an den Pazifik nach Wladiwostok. Sechs Tage dauert die Reise. Für den Transsibirien-Express, den die Helden des abenteuerlichen Debüts der Britin Sarah Brooks in Peking an einem Tag im Jahr 1899 besteigen, steht die Transsib „Modell“.
Eigene Welt mit eigenen Gesetzen
Der Zug mit seinen 20 Wagen ist eine Meisterleistung der Ingenieurskunst, schier eine Festung, eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen und einer eigenen Sprache. Er verbindet mit seinem eisernen Band zwei Kontinente. Die Reise gilt als nicht ungefährlich, Mythen ranken sich um frühere Fahrten, auf denen sich merkwürdige Begebenheiten zugetragen haben. An Bord gibt es Hühner, einen Garten und das Labor des Kartografen sowie ein eigenes Wassersystem.

Die Passagiere bilden eine illustre Gemeinschaft. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen, ein Geheimnis zu bewahren – die Witwe Maria Petrowna genauso wie der Naturforscher Henry Grey. Zur Besatzung unter der Leitung des weiblichen Captain gehören merkwürdige Gestalten wie die beiden obskur erscheinenden Berater, „Krähen“ genannt, die für Recht und Ordnung sorgen. Die Passagiere werden angehalten, die Vorhänge geschlossen zu halten und nicht aus dem Fenster zu schauen.
Im Mittelpunkt steht die 16 Jahre alte Zhang Weiwei. Sie wurde im Zug geboren, ist hier auch aufgewachsen. Für die Crew ist sie eine Art Talisman. Eines Tages findet sie eine blinde Passagierin. Wenig später kommt es auf der zuvor ruhigen und beschaulichen Fahrt durch das sibirische Ödland zu ersten Problemen: Riesenkrebse greifen den Zug an, durch gezeitenartige Wellen entstehen Lecks. Für die Passagiere und die Besatzung eine Katastrophe. Denn ein Gesetz besagt: Nie darf in diesem von der Außenwelt abgeschotteten Zug ein Wesen, ein Stück des Ödlands gelangen.
Reiseführer eines Verschollenen
Ein wiederum fiktives Buchs gibt dem Roman seinen Namen. „Das Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ erschien 1880 in Moskau, ein gewisser Valentin Rostow erzählt darin von seinen eigenen Erlebnissen und gibt zugleich eine Anleitung für eine furchtlose Reise. Jedem der insgesamt sieben Teile des Romans steht ein kurzer Auszug aus dem Handbuch voran, das nahezu jeder Reisende kennt, währenddessen Rostow als verschollen gilt.
„Es heißt, dem Land sei so viel genommen worden, dass es stets hungrig ist. Es hat sich vom Blut genährt, das die Reiche vergossen haben, und von den Knochen der Tiere und Menschen, die zurückgelassen wurden. Es hat Geschmack am Tod gefunden.“
Geheimnisse und Geheimnisvolles geben diesem abenteuerlichen Roman, aus verschiedenen Perspektiven erzählt, etwas Schillerndes und Unbändiges. Brooks überschreitet Genregrenzen. Ihr Debüt kommt als historischer Roman daher, enthält aber auch Fantasy- und Horrorelemente, die faszinieren, manchen vielleicht auch gruseln lassen, weshalb der Roman verschiedene Lesergruppen anspricht.
Lebensfeindliches Ödland
Sarah Brooks, geboren in Lancashire, England, ist von Hause aus Sinologin. Sie hat in China, Japan und Italien gearbeitet und ist nun an der Universität von Leeds tätig. Über Geistergeschichten in der chinesischen Literatur hat sie promoviert. Für ihren Debütroman „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ wurde sie mit dem Lucy Cavendish Fiction Prize ausgezeichnet, mit dem begabte Autorinnen geehrt werden.
Über seine Wirkung als spannender Schmöker hinaus enthält der Roman indes noch eine weitere Ebene, die ob einer Reihe Andeutungen nicht leicht zu greifen ist. Das Ödland wird als feindliche Gegend beschrieben, die sich aufgrund eines Ereignisses durch den Einfluss des Menschen (Strahlung?) einst verwandelt hatte. Was das genau gewesen ist, wird nicht konkret erzählt.
„Doch tatsächlich sind viele an Bord geblieben, und jedes Jahr kommen Neue dazu. Einige fahren ein paar Tage oder Wochen mit. Andere steigen nie wieder aus. Wir wachsen und verändern uns, wie es für alles unumgänglich ist.“
Allerdings steht das Ödland mit seinen Fabelwesen auch für eine besondere Philosophie: Alles ist miteinander verbunden. Und die Natur nimmt diese eiserne Festung namens Transsibirien-Express schließlich ein. Flechten überziehen Wände und den Boden des Zuges, Schmetterlinge flattern durch die Abteile. Das Geheimnis von Maria wird gelüftet, die wahre Identität der blinden Passagierin enthüllt.
Jegliche Sicherheitsvorkehrungen hinter sich lassend – der Zug rast durch die Wache – fährt der Express in Moskau ein, um sich von allen Fesseln der Transsibiriern Kompanie, ihres Schöpfers wie Herrschers, zu lösen. Das Ende lässt den Roman mit seiner Botschaft nahezu als Parabel erscheinen: Ein System, das auf Habgier, Macht und Lügen aufgebaut ist, findet ein Ende. Hinter einer auf den ersten Blick Katastrophenfahrt versteckt sich etwas Hoffnungsvolles. Über einen großartigen abenteuerlichen Pageturner lässt sich also auch ganz wunderbar sinnieren.
Sarah Brooks: „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“, erschienen im Verlag C. Bertelsmann, in der Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Feldmann; 416 Seiten, 24 Euro
Foto von Patrick Schneider auf Unsplash


Das klingt nach der idealen Lektüre für verregnete Herbsttage.
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Oh ja, es ist ein toller spannender Schmöker. Viele Grüße
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Ohhh das klingt sehr gut – zack geht auf die Liste. Schicke ganz liebe Grüße :)
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Das freut mich, wenn Deine Leseliste einen Neuzugang bekommt. So soll es sein ;) Ganz liebe Grüße zurück
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