„In der Meerenge schaukeln ziellos ein paar Eisberge wie Kreuzfahrtschiffe mit Motorschaden.“
Seit Jahrhunderten hat das Land am südlichen Ende unserer Erde die Menschen herausgefordert. Früher nannte man es Terra australis. Heute trägt der fünftgrößte Kontinent der Erde den Namen Antarktika. Einst Ziel wagemutiger Entdecker und Seefahrer, forschen heute hier Wissenschaftler aus aller Herren Länder, legen Kreuzfahrtschiffe mit zahlungskräftigen Touristen an Bord an den Ufern an. Der niederländische Historiker Adwin de Kluyver hat sich selbst auf eine antarktische Reise begeben – auf dem Dreimaster „Europa“ und zurück in der Zeit. Sein Band „Niemandsland“ ist ein unermesslicher Schatz an Erfahrungen und Fakten.
Begegnung zweier Entdecker
Dabei rückt sich de Kluyver nicht so sehr selbst ins Rampenlicht. Sein persönlicher Reisebericht ist nur ein Teil seines herausragendes Buches. Vielmehr erzählt er die Geschichten und Schicksale bekannter und weniger bekannter Antarktis-Reisender. Allen voran die des Japaners Nobu Shirase, der von 1910 bis 1912 eine Expedition leitete. Sein Schiff ankerte einst in Sichtweite der „Fram“, des legendären Dreimastschoners, der den norwegischen Polarforscher Roald Amundsen zur Antarktis brachte. Über ihn wird noch an anderer Stelle zu berichten sein.

Shirases im Übrigen in großen Teilen wenig erfolgreiche Reise, während derer sich Fehler an Fehler reihen, zeigt, wie fordernd diese kalte und karge Eiswüste war und noch immer ist, beweist aber auch, wie viele Entdecker im Laufe der Geschichte vergessen worden sind oder sich nicht auf den ersten Seiten einer Antarktis-Historie verewigen konnten. Es ist der große Verdienst von de Kluyver, den Nebendarstellern den Weg auf die große Bühne zu bahnen.
Der niederländische Marinemaler Willem van der Does brachte die Schönheit des Kontinents, aber auch die brutale Welt an Bord eines Walfängers künstlerisch zu Papier. Der englische Schiffsarzt George Murray Levick beobachtete und studierte das Verhalten der Adeliepinguine. Und dann sind noch die Hunde: Mylius, Lasse, Fix und wie sie alle hießen, ohne die Roald Amundsen wohl nie den Südpol erreicht hätte. Von den 97 Hunden, die am 9. August 1910 an Bord der „Fram“ gebracht worden sind, überleben nur die wenigsten. Nicht unbedingt nur der antarktischen Bedingungen wegen, sondern auch wegen der brutalen Gewalt, der sie ausgesetzt waren. De Kluyver zeichnet ein entsetzliches Bild des umjubelten, aber auch scheinbar unermittlichen Polarforschers, mit dem man wohl keinen Plausch im Grand Café in Oslo halten würde, würde er noch leben. Das Kapitel über die wenn auch erfolgreiche Südpol-Reise ist deshalb vor allem eine Hommage an die Schlittenhunde. Nicht vergessen wird auch Amundsens Widersacher: der britische Marineoffizier Robert Falcon Scott, der zwar den Pol erreichte, aber auf dem Rückweg zum Basislager wie seine vier Begleiter starb.
„Eine Wanderung hat überraschenderweise große Ähnlichkeit mit einem begleiteten Tagesausflug aus dem Maßregelvollzug.“
Neben dem besonderen Blick auf die Helden der zweiten Reihe und eine beachtliche Rechercheleistung fasziniert der Band noch aus einem weiteren Grund. De Kluyver zeigt sich als großer Erzähler und Lehrer. Egal ob er von seiner Tour oder den Reisen der anderen berichtet: Er entwirft eindrückliche Bilder und Szenen, vermittelt umfangreiches Wissen und lässt auch andere Stimmen zu Wort kommen: wie ein Albatros, der von der Freundschaft zwischen Samuel Taylor Coleridge und William Wordsworth und der katastrophalen Expedition von Ernst Shackleton berichtet.
Zur Kulturgeschichte der Polreisen geforscht
De Kluyver, 1968 geboren, promovierte 2016 zur Kulturgeschichte der Polreisen und des Heldentums. Er kuratiert Ausstellungen und organisiert Filmfestivals auf Vlieland. Für sein Werk „Niemandsland“ wurde er 2022 für den Jan-Wolkers-Preis nominiert, den Preis für das beste niederländische Naturbuch.
„Wir als Menschen mögen das Papier mit der Karte darauf besitzen, doch das macht das Land noch nicht zu unserem.“
„Niemandsland“ führt zu verschiedenen Orten und Zeiten, widmet sich sowohl der Vergangenheit und der Gegenwart als auch der Zukunft. Auf seiner Reise wird de Kluyver Zeuge, wie der Klimawandel die Antarktis und ihr sensibles Gleichgewicht beeinflusst. Ein völliges Abschmelzen der mehrere Kilometer dicken Eisschicht würde den Meeresspiegel um mehr als 50 Meter ansteigen lassen. Die Eiskappe der Antarktis bindet 90 Prozent des Südwassers der Erde.
Der Niederländer sieht die Überreste menschlicher Zivilisation wie Fundamente einer britischen Basis in Portal Point und Überreste eines norwegischen Walfängers, beschreibt das Verhalten der Antarktis-Touristen, gibt Einblicke, welche Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz des größten Naturschutzgebietes der Welt getroffen werden. Nähte und Taschen gilt es, sorgsam auf fremde Samen zu untersuchen. Stiefel werden desinfiziert, damit kein Krankheitserreger auf den eisigen Kontinent gelangt. Der zudem reich bebilderte Band sensibilisiert für diesen gefährdeten Natur-Schatz am südlichen Ende unserer Welt – und lässt vor allem über dessen Zauber trotz all seiner Widrigkeiten staunen.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „lesestunden“.
Adwin de Kluyver: „Niemandsland. Eine antarktische Entdeckungsreise“, erschienen im mare Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke; 368 Seiten, 36 Euro

