„Hinter der einen Trauer verbirgt sich immer eine andere, es ist endlos.“
Sommer 1932: Karin lernt Olof kennen – und lieben, obwohl sie bereits mit Sven verheiratet ist, sie – die Übersetzerin und der Autor – gemeinsam ein schillerndes Paar inmitten der schwedischen Literaturszene abgeben. Nur für kurze Zeit leben Karin und Olof ihre tiefen Gefühle füreinander aus. Der Bruch ist brachial und hat immense Folgen. In die Familie, die Karin und Sven gründen, zieht die Wut ein. Eine Wut, die auch ihr Enkel, der Schriftsteller Alex Schulman, in sich spürt. Bereits vor seinem großen Erfolg „Die Überlebenden“ verarbeitet der Schwede in seinem Band „Verbrenn all meine Briefe“ Ereignisse aus der Geschichte seiner Familie. Und schon da auf berührende, spannende und vielschichtige Weise.
Ein Geheimnis kommt ans Licht
Wut ist das eine Gefühl, das andere ist die Angst, die Schulman in den Augen seiner Kinder und seiner Frau erkennt, als ihm eine Situation in der Küche zu entgleisen droht. Er merkt, dass seine unterschwellige Gereiztheit einen Ursprung hat. Er weiß, dass in seiner Familie die unterschiedlichsten Konflikte schwere Gräben gezogen haben. Er beginnt zu recherchieren und meint, einen Grund, einen Auslöser, die Basis seines Übels gefunden zu haben: seinen Großvater Sven. Er und seine Frau Karin hüten ein Geheimnis, das ans Licht kommt, als Schulman auf Briefe und Tagebücher stößt – und einen besonderen Ort aufsucht: das Haus der Sigtuna Stiftung in Stockholm, die Schriftstellern Quartier bot und in der sich Karin und Olof kennenlernen. Ihre Treffen sind heimlich, beide fürchten Svens Zorn und Kontrollzwang, der dem jüngeren Kollegen nur wenig Respekt zollt. Zwei Männer, die nicht unterschiedlicher sein können, trotz ihrer Hingabe zur Literatur, trotz ihres gemeinsamen Schicksals, leiden sie doch beide unter einer schweren Erkrankung.
Bei Olof und Sven handelt es sich um keine Geringeren, als um die beiden berühmten schwedischen Schriftsteller Sven Stolpe (1905-1996) und Olof Lagercrantz (1911-2002). Ersterer verfasste Unmengen an Büchern, war darüber hinaus Literaturkritiker und Übersetzer. Lagercrantz war von 1960 bis 1975 Chefredakteur der schwedischen Tageszeitung „Dagens Nyheter“, die deutschen Übersetzungen seiner Werke erschienen im Suhrkamp Verlag. Die Auseinandersetzung um eine Frau, die Tochter des Chemikers und Nobelpreisträgers Hans von Euler-Chelpin und der Naturwissenschaftlerin Astrid Cleve, eine unerfüllte Liebe sowie Eifersucht und Schmerz finden sich in beider Werke – in Stolpes Romanen über Männer, die von ihren Frauen verlassen werden, in Lagercrantz‘ Gedichten, in denen er seine unerfüllte Liebe zu Karin beschreibt.
Toxische Beziehung
Schulmans autobiografisch geprägter Roman besteht aus drei zeitlichen Ebenen, die voneinander getrennt, aber zugleich eng verwoben sind: die Geschehnisse im Sommer 1932, ein Besuch der Großeltern im Jahr 1988, bei dem der damals zwölfjährige Alex die Bosheit des Großvaters besonders zu spüren bekommt, sowie die jüngsten Geschehnisse, wobei der Autor seine Wut bemerkt, sich auf eine Recherche begibt und eine Lektüre aufnimmt, die ihn in die Vergangenheit seiner Großeltern und die Abgründe im Leben seiner Großmutter, die nach einem traumatischen Erlebnis unter Depressionen leidet, führen. Die Beziehung zu ihrem Mann würde man wohl heute als dysfunktional oder toxisch beschreiben. Sie wird von ihm kleingehalten, leidet unter dessen ständige Demütigungen und Erpressungen. Fast ein Leben hält sie seine garstige, langanhaltende Rache aus. Es ist ein Leben in Dunkelheit, nur Briefe verleihen Karin eine gewisse Überlebenskraft – und das Gedicht „Das Land, das nicht ist“ der finnlandschwedischen Lyrikerin Edith Södergran.
Der Schwede, der 1976 als Sohn von Stolpes Tochter Lisette geboren wird und auch als Journalist für Radio und Fernsehen arbeitet, begibt sich während seiner Recherche an verschiedene Orte, führt Gespräche, unter anderem auch mit Lagercrantz‘ Sohn David, der die Nachfolgebände zur Millennium-Trilogie von Stieg Larsson nach dessen Tod verfasst und damit auch Berühmtheit erlangt hat. Prägend ist jedoch auch die Zeitreise in das Jahr 1932 mit literarischen wie privaten Texten, die die ganze Tragik in Worte fassen. Szenische Beschreibungen wechseln sich mit Reflexionen des Autors ab.
„Ich sehe meinen eigenen Namen ganz unten, niedergedrückt von allem, was vor mir gewesen ist. Ich ziehe einen Stift heraus. Ich muss noch etwas hinzufügen, einen weiteren Strich, von Sven Stolpe gerade nach oben. Das Erbe wird noch schwerer.“
„Verbrenn all meine Briefe“ – der Titel geht auf eine Bitte Karins an Olof zurück – beschreibt, wie das Leben früherer Generationen auf ihre Nachkommen Einfluss haben. Karin und Sven werden Eltern von vier Kindern. Die Familie wird später eine zerrüttete sein. In seinem zwei Jahre später erschienenen Roman „Die Überlebenden“ widmet sich der Schwede schließlich den Beziehungen zu seinen Brüdern. In „Verbrenn all meine Briefe“ ist das Rezept seines Erfolgs jedoch schon angelegt: Bereits hier zeigt sich eine Finesse im Aufbau der Handlung, das psychologische wie sprachliche Feingespür, um sowohl gewalttätige Wut als auch zarte Liebesgefühle sowie tiefen Schmerz zu beschreiben. Und das darüber hinaus mit einer Offenheit, die viel Respekt abnötigt.
Einer speziellen Frage, einem besonderen Gedanken stellt sich Schuman indes darin nicht: Was wäre, wenn Karin bei Olof geblieben wäre und sie Sven verlassen hätte? Dass seine Mutter aus einer vor allem leidvollen Beziehung entstanden ist, ist wohl der einzige Trost in einer Familie, in der ein Tyrann über seinen Tod hinaus verheerenden Einfluss hat.
Eine weitere Besprechung auf dem Blog „Mit Büchern um die Welt“
Alex Schulman: „Verbrenn all meine Briefe“, erschienen im dtv Verlag, in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Hanna Granz; 304 Seiten, 23 Euro
Foto von Anne Nygård auf Unsplash, Porträts von Sven Stolpe und David Lagercrantz auf wikipedia.de