„Familie kann ein verdammt gefährlicher Ort sein.“
Er war es, ganz sicher. Die Bewohner von Ådalen haken den schrecklichen Fall für sich ab. Ein Schuldiger ist schnell gefunden. Doch als Olof seinen Vater Sven erstochen in dessen Haus findet, kehren die Erinnerungen an die einstigen Geschehnisse von vor 23 Jahren zurück. Denn Olof hatte damals gestanden, Lina vergewaltigt und ermordet zu haben. Nie wurde er vor ein Gericht gestellt ob seines jungen Alters, nie tauchte sein Name in der Presse, in den Akten auf. Der Junge war 14 Jahre alt, noch ein Teenager. Und nie konnte die Leiche des jungen Mädchens gefunden werden. Ist der Mord an seinem Vater eine späte Rache? Polizeimeisterin Eira Sjödin wird ins Ermittlerteam gerufen, um diesen Fall aufzuklären. Die junge Polizistin steht im Mittelpunkt einer neuen Trilogie der schwedischen Autorin Tove Alsterdal – und „Sturmrot“ ist ein spannender, atmosphärischer und komplexer Auftakt nach Maß.
Akten mit einem Geheimnis
Ein Krimi steht und fällt bekanntlich oft mit seinem Ermittler oder seiner Ermittlerin. Mit Eira schickt Alsterdal nun eine recht junge, am Anfang ihrer Laufbahn stehende Polizistin in die Krimiwelt. Sie ist Anfang 30, Single und kinderlos – und sie ist von Stockholm wieder in die Heimat gezogen, um sich um ihre an Demenz erkrankte Mutter zu kümmern. Eira kommt in das Ermittlerteam rund um den erfahrenen Georg Georgsson, kurz GG genannt. Ihre Ortskenntnisse, ihr Einfühlungsvermögen sowie ihr Ehrgeiz verschafft sie sich schnell Respekt. Mit sehr viel Einsatzwillen klopft sie systematisch die Verbindungen zwischen Sven, der zurückgezogen gelebt hat, und seinen Nachbarn ab. Ein Hinweis einer Frau auf ein anderes zurückliegendes Verbrechen führt sie schließlich auf eine heiße Spur.
Doch nicht nur der Mord an Sven beschäftigt die Polizei. Kurz nach seinem Tod wird sein Haus in Brand gesteckt, als sein Sohn sich darin aufhält. Olof war nach vielen Jahren zum Entsetzen der Einwohner zurückkehrt und ringt nach dem Brandanschlag schwer verletzt um sein Leben. Als Eira sich mit den Akten des damaligen Falls beschäftigt, stößt sie auf einige Ungereimtheiten und macht eine verstörende Entdeckung. Sie selbst damals noch ein Kind kann sich nicht an die einstigen Geschehnisse erinnern, ihre Mutter aufgrund ihrer Demenz auch nicht – und ihr älterer Bruder Magnus, der mit kleineren Delikten aktenkundig geworden ist und sein Leben nicht in den Griff bekommt, sträubt sich dagegen. Bis am Flussufer in der Nähe einer alten Schmiede eine Leiche gefunden wird…
„Sturmrot“ erinnert ein wenig an den Gang durch ein Walddickicht. Immer wieder gibt es auf dem Weg Fundstücke, doch die Lösung wird erst am Rand des Waldes mit weitem Blick auf den Horizont klar. Es ist keine aufregende Lösung, aber eine durchaus nachvollziehbare. Und Alsterdals Roman ist auch keiner, in dem brutale Handlungen beschrieben werden. Es ist eher eine stille, wenngleich erschreckende Gewalt, die bereits geschehen ist, von der nur das Ergebnis präsentiert wird. Der Leser braucht Geduld. Denn die Schwedin setzt nicht auf Hau-drauf-Effekte, ihr geht es vielmehr um die Menschen und ihre Motive und die Frage, was hat sie dazu bewogen, eine unsichtbare Grenze zu übertreten und ein Verbrechen zu begehen. Oft liegt die Antwort in der Vergangenheit. „Sturmrot“ ist deshalb ein sehr psychologischer Roman, der sich auch mit der Figur der jungen Ermittlerin und ihrer Familie auseinandersetzt. Und Eira ist in eine Gegend im Norden Schwedens zurückgekehrt, die schon bessere Zeiten erlebt hat. Denn von der einstigen Holzindustrie mit ihren unzähligen Sägewerken sind nur noch Ruinen, Lost Places, zu sehen. Die Menschen leben noch hier der Gewohnheit wegen.
„Der Wald kam ihr dunkler vor als sonst. Ein Zweig knackte, ein Vogel raschelte im Laub. Die Angst steckte noch immer in der Gegend, die Anwesenheit von etwas Bösem. Ein paar weitere Bäume waren umgestürzt, ihre Wurzelstöcke ragten in die Luft, wie Schreie aus der Erde.“
Der einzige Reiz der Region ist ihre beeindruckende Landschaft, die Alsterdal detailreich und sehr atmosphärisch beschreibt; sprachlich auf hohem Niveau mit vor allem lebendigen sowie spannungsgeladenen Dialogen. Die anderen Figuren aus der Polizeiriege bleiben eher im Hintergrund, bis auf August, einen jungen Polizisten, mit dem die Heldin ein kurzes Techtelmechtel beginnt. Vielmehr konzentriert sich die Autorin auf die Menschen im Umfeld der Verbrechen und hinterfragt, was Schweigen und Lügen für Folgen auf die Gemeinschaft hat.
In ihrem Nachwort verweist die Autorin auf reale Fälle, die den Hintergrund ihres Romans bildeten; darunter auch Polizeiermittlungen, in denen Jugendliche in endlosen Verhören dazu gebracht wurden, ein Verbrechen zu gestehen, das sie nicht begangen haben. Diese unkorrekte und schlampige Polizeiarbeit mit drastischen Folgen ist ein Thema des Romans genauso wie Hass und Gewaltaufrufe im Netz. Für „Sturmrot“ – das Buch stand wochenlang auf Platz eins der schwedischen Bestsellerliste – erhielt Alsterdal sowohl den Schwedischen Krimipreis 2020 als auch ein Jahr später den Skandinavischen Krimipreis verliehen. 1960 in Malmö geboren, absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin, arbeitete zudem als Autorin für Theater und Film. Bereits in der Vergangenheit wurde sie für ihre Spannungsromane mehrfach ausgezeichnet. Nach dem ersten Teil der Eira-Sjödin-Reihe erschien bereits im Oktober der zweite Teil mit dem Titel „Erdschwarz“ in deutscher Übertragung, der dritte Teil „Nebelblau“ kommt im Juli kommenden Jahres heraus.
Auf der Suche nach dem Platz im Leben
Alsterdal hat einen spannenden und komplexen Pageturner für all jene geschrieben, die sich bei der Krimilektüre vor allem auch mit der Psychologie, den verschiedenen Beziehungen und den Handlungsmotiven der Personen, sowie sozialen Apsekten beschäftigen möchten. Trotz der zahlreichen roten Fäden und Geschichten verliert der Leser nie den Überblick. Mit Eira Sjödin hat die Schwedin eine interessante weil auch ambivalente Figur geschaffen, die ihren Platz im Leben, beruflich wie privat, noch sucht und finden muss.
Tove Alsterdal: „Sturmrot“, erschienen im Rowohlt Verlag, in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Hanna Granz; 480 Seiten, 17 Euro
Foto von Tjaard Krusch auf Unsplash
habe ich auch gelesen, ist wirklich ein gut gemachter Krimi!
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Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Elvira. Ja, er ist gut, und ich will unbedingt die beiden anderen Teile lesen. Hat mich ein wenig auch an Alsterdals Landsmann Carlsson erinnert, den ich vor Kurzem hier auf dem Blog empfohlen habe. Liebe Grüße nach Berlin
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