Katherine May – „Überwintern“

„Winter ist ein ruhiges Haus mit Lampenlicht (…).“

Jetzt eine Haselmaus sein. Sich zusammenkugeln, schlafen, die Welt, Winter und Kälte hinter sich lassen, um neue Kraft zu schöpfen. Die Natur zeigt uns unsere Grenzen auf, ihre Geschöpfe haben im Laufe der Zeit jedoch bemerkenswerte Strategien entwickelt – um zu überleben, um zu überwintern. Selbst bei Schnee und Eis, bei bitterster Kälte. Die Engländerin Katherine May schreibt in ihrem Buch „Überwintern“, wie wichtig es ist, sich einer Winterruhe hinzugeben, eine Pause einzulegen. Auslöser waren mehrere persönliche Schicksalsschläge, die sie auch zwangen, ihren Lebensstil zu überdenken und zu verändern.

Schlussstrich gezogen

May ist Mutter eines neunjährigen Sohnes und arbeitet als Dozentin an der Universität. Nebenbei verfasst sie Bücher. Der Stress im Beruf und im Privatleben bestimmt ihren Alltag. Sie kommt nicht zur Ruhe. Als Jugendliche litt sie unter Depressionen, zudem wurde bei ihr das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Um ihren 40. Geburtstag herum erkrankt ihr Mann schwer – er wird mit einer Blinddarmentzündung in ein Krankenhaus gebracht. Die Familie bangt um sein Leben. Dann der zweite Einschnitt: Ihr Sohn entwickelt eine Schulangst. May, die zuvor selbst gesundheitlich angeschlagen und lange Zeit krankgeschrieben ist, zieht daraufhin einen Schlussstrich. Sie kündigt ihre Stelle und nimmt Bert von der Schule. Ein anderes Leben beginnt, wenngleich sie immer auch Gewissensbisse und Zweifel plagen, nicht mehr Teil einer produktiven Gesellschaft zu sein.

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Diese sehr persönlichen Einblicke in ihr Leben begleiten Beschreibungen von besonderen Erlebnissen und Begegnungen, die oft mit dem hohen Norden zusammenhängen. Im fünften Monat schwanger reist sie nach Nordnorwegen, um das faszinierende Polarlicht zu beobachten und Einblicke in das Leben der Samen, der indigenen Bevölkerung Skandinaviens, zu erhalten. Freundinnen wie Hanne stammen aus Finnland, wo im Winter die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt fallen, es viel Schnee gibt und Sauna-Besuche nicht nur ein Ritual, sondern ein Lebensprinzip sind. May lernt Dörte kennen, eine Kaltwasser-Schwimmerin, die mit ihren Gängen ins eisige Wasser die Folgen ihrer psychischen Erkrankung lindern kann. Und dann gibt es immer wieder interessante weil auch lehrreiche Exkursionen in die Natur: in die Welt der Wölfe, in das Leben der Bienen. Sie schreibt vom Rotkehlchen und der Haselmaus und besucht besondere Orte: die „Blaue Lagune“ auf Island sowie Stonehenge.

„Winter ist die Zeit des Rückzugs von der Welt, der maximalen Ausnutzung knapper Ressourcen, brutaler Effizienz und Unsichtbarwerdung – aber genau da findet Verwandlung statt. Winter ist nicht Tod, ist nicht das Ende des Lebens, sondern eine Bewährungsprobe.“

Und was wäre die dunkle und kalte Jahreszeit ohne Bücher. May verweist auf zahlreiche Autorinnen und Autoren und ihre Werke. Von Tove Janssons Klassiker über die Mumins über die Gedichte von John Donne und die „Chroniken von Narnia“ von C. S. Lewis bis hin zu Äsops Fabeln und Sylvia Plath und ihr Gedicht „Überwintern“, das den Abschluss ihrer Sammlung „Ariel“ bildet, die sie kurz vor ihrem Freitod im Jahr 1963 verfasst hat und die von ihrem Mann Ted Hughes posthum veröffentlicht wurde.

Der Winter sei eine Zeit des Rückzugs, eine Zeit der Dunkelheit, die man nicht ignorieren und vor der man nicht fliehen sollte, schreibt May, die im englischen Küstenort Whistable zu Hause ist und auch in ihrem Buch dem Meer eine besondere Rolle zuweist. Der Winter sollte vielmehr genutzt werden, um sich auf sich zu besinnen, neue Kraft zu schöpfen, die alte Haut abzustreifen. Jede Zeit, jede Phase hat ihren Sinn und ihre Rituale. Ihr Buch umfasst die Monate von September bis März, eine Reise nach Stonehenge einen Tag nach der Wintersonnenwende bringt sie dazu, sich auch den acht Phasen des Jahreskreises, dem die Druiden folgen, zu widmen.

Gesellschaftskritisch

Reise- und Naturbeschreibungen wechseln sich ab mit Erinnerungen sowie Reflexionen, die als Leitfaden dienen können. Ihre Hinweise und Gedanken sind Anregungen, das eigene Tun zu überdenken. Passagen zur Arbeitswelt und den fragwürdigen Regeln der modernen Gesellschaft können als Kritik verstanden werden, wenn es beispielsweise darum geht, dass für die Phase der Genesung kaum noch Raum bleibt, getrieben von dem Druck, wieder seine Arbeit aufzunehmen zu müssen, dass erst Arbeit den Wert eines Menschen definiert.

Jetzt, in dieser Zeit, wo die Tage kürzer werden, der erste Frost für Reif und Schnee sorgt, ist auch der richtige Moment, Mays wunderbares und reiches Buch zu lesen: das einen nachdenken lässt über Winter und Winterruhe, einen vielleicht auch anstößt sich mit einem der zahlreichen Themen näher zu beschäftigen; im Anhang führt die Autorin einige wissenschaftliche Quellen auf. Das Buch wird weder die Welt retten, noch unsere oft so kühle und emotionslose Gesellschaft aus den Angeln heben. Aber womöglich wird vielleicht der eine oder andere nachsinnen über eine ganz persönliche Veränderung, ein neues Ausrichten. Und wenn es nur ist, sich Ruhe zu gönnen, einen Gang zurückzuschalten und den Winter, den großen Lehrmeister, mit einer gewissen Freude willkommen zu heißen.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „Kulturbowle“ sowie „Klappentexterin und Herr Klappentexter“


Katherine May: „Überwintern. Wenn das Leben innehält“, erschienen im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Marieke Heimburger; 272 Seiten, 22 Euro (Taschenbuch 12 Euro)

Foto von Clever Visuals auf Unsplash

3 Kommentare zu „Katherine May – „Überwintern“

  1. Danke Constanze, für das Verlinken. Mir hat das Buch im letzten Winter eine schöne Lektüre und ruhige, besinnliche Lesestunden beschert. Vielleicht ein schöner Anstoß, jetzt zu Beginn des neuen Winters mal wieder in das eine oder andere Kapitel hineinzuschmökern. Herzliche Grüße! Barbara

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