Joe Wilkins – „Der Stein fällt, wenn ich sterbe“

Sein Vater ist seit Jahren verschwunden, seine Mutter nahm sich kürzlich das Leben. Wendell Newman lebt allein in einem Trailer. Sein Geld verdient der 24-Jährige als Arbeiter auf einer nahe gelegenen Farm. Doch dann soll er unerwartet Sorge tragen für ein Kind: seinen Neffen Rowdy, dessen Mutter Lacy zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde – wegen Drogenbesitzes und Kindeswohlgefährdung. Der Junge wurde in der Wohnung eingesperrt und verwahrlost aufgefunden.

Militante Regierungsfeinde

Aus Wendell wird ein treusorgender Onkel, der den kleinen Jungen, der kaum spricht und in seiner Entwicklung gestört ist, in sein Herz schließt. Sein eigener Lebensweg könnte einen guten Lauf nehmen. Doch dann wird er mit der tragischen Geschichte seiner Familie und mit den Problemen und extremen Spannungen in seiner Heimat Montana konfrontiert. Wendells Vater, der einst einen Wildhüter getötet hatte und geflohen war, wird von einer gewaltbereiten und militanten Gruppe, die gegen den Naturschutz und auch die Regierung aufbegehrt, das Land bejagen und formen will, wie sie es will, zum Märtyrer stilisiert. Joe Wilkins preisgekrönter Roman „Der Stein fällt, wenn ich sterbe“ erzählt eine düstere, ernüchternde Geschichte des mittleren Westens und seinen Menschen.

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Auch jene von Gillian und ihrer Tochter Maddy. Die engagierte Lehrerin war die Frau des einst getöteten Wildhüters Kevin. Maddy wuchs ohne Vater auf, sie hilft Wendell, den sie mag, und bringt für dessen Neffen Kleidung und Bücher – ohne zu wissen, dass er der Sohn des Mörders ihres Vaters ist. Erst als die Situation zunehmend eskaliert, wird Mutter und Tochter klar, mit wem sie es zu tun haben.

Eindrucksvolle Kulisse

Wilkins Roman ist in der Zeit angesiedelt, als Barack Obama Präsident war. Erzählt wird die Handlung vorrangig aus den Perspektiven der beiden Hauptfiguren Wendell und Gillian. Ein weiterer Strang erzählt von Wendells Vater, Verl, einem Fallensteller. Es sind dessen Aufzeichnungen, in denen er seine teils wirren Gedanken während seiner Flucht beschreibt.

Schauplatz des Geschehens sind die rauen Bull Mountains, eine Bergkette der Rocky Mountains im Osten Montanas gelegen – Heimat des Wapiti, von Wolf, Puma und Kojote. Eine reiche Natur, die in Gefahr ist. Eine eindrückliche Landschaft, für die Wilkins poetische und kraftvolle Worte findet, um sie Stück für Stück als atemberaubende Kulisse für ein Sozialdrama aufzubauen.

„Hier draußen galten die üblichen Regeln nicht. Was gut und freundlich war, konnte man niederschießen. Was gewalttätig und abscheulich war, konnte für immer in die Berge verschwinden.“

Das Land ist gespalten. Ein großer Teil der Menschen lebt in prekären bildungsfernen Verhältnissen. Arbeitslosigkeit und Armut herrschen, die Älteren fliehen in die Alkoholsucht, die Kinder haben kaum eine Perspektive, Zorn und Wut auf die Regierung brechen sich Bahn, Gewalt wird von einer Generation zur nächsten weitergereicht – was sich beispielsweise in der Figur des jungen Tavin zeigt, der sich der militanten Gruppe anschließt und eine Schlüsselrolle übernehmen wird.

Unhappy End schockiert

Wendell will diesem Teufelskreis entgehen. Seine Familie erlebte den finanziellen wie gesellschaftlichen Abstieg, als sie Mitte der 90er-Jahre das Land verlor. Basketball und Bücher gaben Wendell in der Jugend Halt. Er ist eine Figur, die der Leser, die Leserin wohl ins Herz schließt. Das Unhappy End des Buches, der Abschluss einer wilden Verfolgung inmitten der Berge, schockiert, wenngleich dieses Finale auch eine mystisch-pathetische Vorstellung vermittelt – ganz nach dem Motto „Der Kreis schließt sich“.

„Und der Tag verlor sich in seinen Tiefen. Wurde zu einem kratzenden und knurrenden, luftholenden Etwas. Ein großes, muskulöses Tier stellte sich auf seine Hinterbeine, richtete sich zu seiner vollen, schrecklichen Größe auf und zog die untergehende Sonne, den schwachen Wind und die Abendlieder der Vögel in seine Lungen ein.“

Joe Wilkins kennt das Land und seine Menschen. 1978 kam er auf einer Ranch nördlich der Bull Mountains zur Welt und wuchs dort auch auf. Er studierte Ingenieurwesen und Kreatives Schreiben. Sein Schaffen ist vielfältig, er veröffentlichte bisher Romane, Erzählungen, Lyrik sowie Essays.  Für „Der Stein fällt, wenn ich sterbe“, im Original „Fall Back Down When I Die“, wurde er 2020 mit dem High Plains Award geehrt. Wilkins lebt mit seiner Familie in Oregon. An der Linfield-Universität leitet er das Kreativprogramm.

Mit einigen Jahren Verspätung ist nun „Der Stein fällt, wenn ich sterbe“ auf Deutsch erschienen und kann hierzulande entdeckt werden – und sollte es auch. Wilkins‘ Roman hat viele Gesichter, ist sowohl intensiver Thriller im Westerngewand als auch ein sozialkritischer Gesellschaftsroman mit Tiefe und erinnerungswürdigen Protagonisten. Und wie der US-Amerikaner die beeindruckende Landschaftskulisse beschreibt, lässt zugleich an die Großen des Nature Writing denken.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Kaliber 17“ und „Wissenstagebuch“.


Joe Wilkins: „Der Stein fällt, wenn ich sterbe“, erschienen im Lenos Verlag, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli; 373 Seiten, 26 Euro

Foto von John Kakuk auf Unsplash

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