Zugegeben: In Schule und Studium blieb er von mir ungelesen. Er stand mit seinem Roman „Levins Mühle“, 1964 erschienen und verfilmt, zwar auf der umfangreichen Lektüreliste, die es galt, im Verlauf der Semester geduldig abzuarbeiten; mit der Zeit sah man dieser Liste mit Häkchen, Unterstreichungen und Eselsohren es allerdings auch an, wie sie mich durch die Jahre begleitet hat. Doch für andere Autorinnen und Autoren der DDR hegte ich zu jener Zeit ein größeres Interesse, wie Christa Wolf und Hermann Kant mit ihren Romanen, Stephan Hermlin mit seinen Erzählungen. Im vergangenen Jahr wurde mir der Name Johannes Bobrowski (1917 – 1965) wieder bewusst, er trat aus der Vielzahl bekannter und geschätzter DDR-Schriftsteller, wohl auch aus einer zweiten Reihe in den Vordergrund. Denn anlässlich seines 100. Geburtstages erschien der Band „Gesammelte Gedichte“ in der Deutschen Verlags Anstalt (DVA).
Mit seinen mehr als 750 Seiten beweist diese Ausgabe, wie intensiv sich Bobrowski mit der Lyrik auseinandergesetzt, wie diese literarische Gattung ihn Zeit seines Lebens begleitet und er selbst Gedichte geschrieben hat, obwohl sein erster Gedicht-Band mit dem Titel „Sarmatische Zeit“ erst 1961 und damit nur vier Jahre vor seinem frühen Tod erschien. Doch mit großem Erfolg: 1962 erhielt er den Preis der Gruppe 47, er wird sowohl im Osten wie im Westen gelesen und geschätzt. Der Band „Gesammelte Gedichte“ enthält neben jenem ersten Gedicht-Band den ebenfalls zu Lebenszeiten erschienenen Band „Schattenland.Ströme“, den zwei Jahre nach Bobrowskis Tod veröffentlichten Band „Wetterzeichen“ und den aus dem Nachlass entstandenen Band „Literarisches Klima. Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung“ sowie verstreut oder in Sammelhandschriften veröffentlichte Gedichte; die frühesten stammen aus den 1930er-Jahren. Es gibt wohl keinen Abschnitt seines Lebens, ausgenommen der Kindheit, in dem er keine lyrische Texte geschrieben hat.
Liest man Bobrowskis Gedichte, ist es notwendig auch dessen Biografie näher in Augenschein zu nehmen. Denn seine Erlebnisse, Erfahrungen und Lektüren, allgemein eine Reihe seiner kulturellen Wahrnehmungen, finden sich in den Gedichten in verdichteter wie hochliterarischer Form wieder. Vor allem ein Thema sticht dabei besonders heraus: die alte, indes verlorene Heimat. Bobrowski wird 1917 in Tilsit geboren und ist ein Kind des Memellandes, an der Kurischen Nehrung gelegen und von einer wechselvollen Geschichte geprägt. Obwohl er bereits in der Kindheit mit den Eltern nach Königsberg (Kaliningrad) zieht, besucht er häufig die Großeltern und weitere Verwandte. Die vielfältige Landschaft und reiche Natur dieser Region beschreibt Bobrowski in zahlreichen seiner Gedichten, die, idyllisch gezeichnet vom Meer und Flüssen, von Wäldern und Mooren, allerdings auch von frühen harten Wintern heimgesucht wird. Als Jugendlicher und Schüler des humanistischen Stadtgymnasiums in Königsberg widmet er sich den beiden Philosophen Immanuel Kant, dem berühmten Sohn der Stadt, sowie Johann Georg Hamann. Mit Blick auf die Form seiner Gedichte, vor allem die Loslösung von Reimstrukturen und die Verwendung der klassischen Odenform und des Hexameters, eines antiken Versmaßes, hat Bobrowski indes vor allem einer geprägt: Friedrich Gottlieb Klopstock, Vertreter der Empfindsamkeit und im Übrigen wie Hamann Wegbereiter des autozentrischen Schreibens.
„Die künstlerische Existenz, unverstanden und isoliert, bildet ein geheimes Zentrum seines Werk, sie steht im Zeichen des Grenzlands.“ (Helmut Böttiger im Nachwort)
Doch Bobrowski schreibt nicht nur über die Schönheit seiner Heimat, die reich an Kulturen, Sprachen und Mythen ist. Er wird während des Zweiten Weltkriegs – wie im Übrigen auch Siegfried Lenz und Heinrich Böll – Zeuge von unermesslicher Zerstörung und Gewalt – als Soldat sowohl an der West- als auch an der Ostfront. Vier Jahre verbringt er anschließend in russischer Gefangenschaft, ehe er nach Berlin kommt, wohin die Eltern und Geschwister bereits 1937 gezogen waren und wo er fortan als Lektor arbeitet, ab 1959 unter anderem für den Union Verlag tätig ist.
Ein Gedicht zu lesen, bedeutet Konzentration, Achtsamkeit. Beides unerlässlich für die Lyrik des Autors, dem ich mich auch wegen eines anderen Grunds gewidmet habe – der Herkunft und eines persönlichen Rückblicks wegen. Aufgewachsen in der DDR, ist es mir ein großes Anliegen, mich weiter mit Autoren des Landes und ihren Werken zu beschäftigen. Je älter man wird, desto häufiger denkt man zurück, woher man kommt, welchen Einfluss Kindheit und Jugend auf das spätere Leben haben. Dass dieser intensive wie gefühlvolle Blick zurück in die eigene Vergangenheit, zurück zu jenem Ort, der einen als Mensch zuerst prägt, auch Autoren wie eben Bobrowski beschäftigt hat, zeigt wohl auch den Stellenwert jener Erinnerungen bei jedem von uns.
Weitere Besprechungen auf den Blogs „Denkzeiten“ und „BuchundBrimborium“.
Johannes Bobrowski: „Gesammelte Gedichte“, erschienen in der Deutschen Verlags Anstalt (DVA); 752 Seiten, 34,99 Euro
Eine schöne Besprechung, ja eine Hommage an Bobrowski. Ich habe ihn erst letztes Jahr wegen des Buchmessethemas entdeckt. Ich mag seine Gedichte sehr. Sie sind wahrhaft kraftvoll.
Viele Grüße!
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Ja, das sind sie ohne Frage. Spannend, immer wieder solche Entdeckungen oder Wieder-Entdeckungen zu machen. Viele Grüße nach Berlin
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Ich kann mich Marinas Kompliment nur anschließen. Egal aus welcher Perspektive man auf Bobrowskis Literatur schaut, sei es aus der des Kontextes der DDR-Literatur, sei es aus der des Zusammenhangs von Tradition und Moderne oder weiterer Perspektiven, seine Gedichte, aber auch seine Prosa war immer irgendwie anders. Aber das macht ihn meines Erachtens auch aus, in einer Weise, die ich selbst viel lange verkannt habe.
Viele Grüße!
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Vielen Dank, Peter, für Deinen wunderbaren Kommentar, der es auf den Punkt bringt. Ich denke, deshalb werden auch noch immer DDR-Autoren gelesen. Nicht aus einer Nostalgie heraus, sondern weil sie einfach sehr gute, herausragende Literatur geschrieben haben. Und da ist es wichtig, immer wieder an sie zu erinnern. Viele Grüße
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