Cristina Henríquez – „Der große Riss“

„Was die Natur vollbracht hatte, wollte der Mensch wieder rückgängig machen.“ 

Er gilt als Meisterwerk der Ingenieurbaukunst und wird als das achte Weltwunder bezeichnet. Seit 1914 verbindet der Panamakanal den Atlantik auf der einen Seite mit dem Pazifik auf der anderen Seite. Die Bauarbeiten haben Jahrzehnte gedauert, Tausende Menschenleben gefordert. In ihrem Roman „Der große Riss“ erzählt die US-amerikanische Autorin Cristina Henríquez von der Entstehung des Panamakanals – vor allem jedoch von den betroffenen Menschen und ihren Schicksalen.

Autorin mit Wurzeln in Panama

Liest man die Biografie der Autorin und Journalistin, stößt man schnell auf eine Verbindung zum Schauplatz der Geschichte. Ihr Vater stammt aus Panama, kam Anfang der 1970er-Jahre in die USA, um an einem College zu studieren. Jahrelang hat Henríquez an ihrem Roman gearbeitet, dafür ausgiebige Recherche betrieben, wie sie in ihrem Dank am Ende des Buches erklärt. Am Anfang findet der Leser, die Leserin eine Karte der Panamakanalzone aus dem Jahr 1907 sowie eine Stellenanzeige der Isthmischen Kanalkommission. Gesucht werden 4.000 Arbeitskräfte, die zehn bis 20 Cent pro Stunde verdienen können.

Die Handlung beginnt indes mit einem stillen Beobachter: Es ist der Fischer Francisco, der nicht an ein erfolgreiches Ende des Bauprojekts glaubt, den künftigen Kanal „Mund“ nennt, weil er alles verschlingt. Sein Sohn Omar, 17 Jahre alt, ist einer der unzähligen Arbeiter, trotz des Unmuts seines Vaters malocht er auf einer der Baustellen. Auch die nur ein Jahr jüngere Ada zieht es dahin. Sie besteigt ein Schiff und lässt ihre Mutter Lucille und ihre schwerkranke Schwester Millicent in Barbados zurück, um Geld für eine notwendige OP zu verdienen. Sie findet Arbeit im Haus der Oswalds, die aus New Orleans gekommen waren. John Oswald forscht nach einem Mittel gegen Malaria, seine Frau ist ebenfalls krank. Es ist die Zeit des technischen Fortschritts: Telefon, die Eisenbahn und die Elektrizität haben Einzug in das Leben der Menschen gefunden.

Blick auf die einfachen Menschen

Henríquez konzentriert sich in ihrem Roman vorrangig auf die einfachen Menschen, die sie ins Zentrum stellt. Die nach einem guten Leben streben, allerdings prekären Umständen und einem schonungslosen System ausgeliefert sind, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich groß ist, die Folgen immens sind. Rassismus herrscht; der Riss ist nicht nur ein geografischer. Versuche des Aufruhrs werden niederschlagen, das müssen sowohl Omar als auch Valentina, die Frau des Fischhändlers Joaquin, erfahren. Er widersetzt sich dem unnachgiebigen und skrupellosen Aufseher Miller, sie protestiert gegen einen Staudamm, der im Zuge des Kanals errichtet und für den ein Ort umgesiedelt werden soll. Doch vergeblich.

Die Handlung springt nicht nur von einem Protagonisten zum anderen, deren Wege ab und an miteinander verknüpft sind. Mit ihr erfährt der Leser so einiges rund um dieses Kapitel der Geschichte Panamas: der enorme geopolitische Einfluss der USA auf das Land, das gerade seine Unabhängigkeit von Kolumbien erlangt hatte, das Scheitern der Franzosen am Kanalbau, die Migrationswelle, die das riesige und anspruchsvolle Bauvorhaben mit sich gebracht hat, die Gefahr für die Arbeiter, an Malaria zu erkranken oder bei einem Unfall oder an Entkräftung zu sterben. So setzt sich ein facettenreiches Bild dieser einstigen Geschehnisse zusammen.

„Den ganzen Tag lang herrschte dieser Rhythmus. Die Männer schwangen ihre Arme, die Dampfbagger schaufelten, Züge rollten heran, Züge rollten fort.“

Schätzungsweise 100.000 Menschen zog es an die schmalsten Stelle Mittelamerikas zwischen den beiden Städten Colón und Balbao, einem heutigen Vorort von Panama-Stadt. Allein in den ersten Jahren von 1881 bis 1889 verloren 22.000 Arbeiter ihr Leben. Am 15. August 1914 fuhr der US-amerikanische Dampfer S.S. Ancon als erstes Schiff durch den 82 Kilometer langen Kanal, der fortan die Fahrzeit und Distanz drastisch verringert. Zuvor mussten die Schiffe Südamerika umrunden und Kap Hoorn umfahren. Die offizielle Eröffnungsfeier fand erst knapp sechs Jahre später statt, da der Erste Weltkrieg seine Schatten vorauswarf. Erst 1999 übergab die USA den Kanal an Panama, 2016 wurde er erweitert. Schätzungsweise 14.000 Schiffe durchfahren jährlich diese künstliche Wasserstraße, die für den globalen Warenverkehr zu den wichtigsten Seewegen zählt.

Bauarbeiten für den Panamakanal, 1888
(Foto: Wikipedia)

Cristina Henríquez, 1977 geboren in Delaware, ist Autorin von vier Büchern. Ihr Roman „The Book of Unknown Americans“ aus dem Jahr 2014 wurde von The New York Times als eines der Bücher des Jahres ausgewählt. Es erschienen außerdem der Roman „The World in Half“ und der Erzählband „Come Together, Fall Apart: A Novella and Stories“. Sie schreibt regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften wie The New Yorker, The New York Times, The Wall Street Journal und TIME. Cristina Henríquez lebt und arbeitet heute in Illinois.

„Was er sah, als er über den riesigen Abgrund starrte, war nicht bloß ein Kanal, sondern eine große Kluft, die Panama zweiteilen würde.“

Ihr Roman beeindruckt vor allem durch ihren empathischen Blick auf die Protagonisten. Sie zeigt anhand ihrer Figuren auch immer wieder Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft auf. Einige Protagonisten erleben am Schluss des Romans ein Happy End –  trotz der politischen, wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Verhältnisse. Andere wiederum werden zu Opfern tragischer und erschütternder Ereignisse, die oft auch Ausdruck für die Schattenseiten dieses Mammutprojekts sind. Mit „Der große Riss“ ist der Autorin ein lehrreiches, lebendiges und berührendes Buch gelungen, das zudem an einen besonderen Ort führt.

Eine weitere, eher kritische Besprechung gibt es auf dem Blog „Buch-Haltung“.


Cristina Henríquez: „Der große Riss“, erschienen im Hanser Verlag, in einer Lizenzausgabe auch in der Büchergilde Gutenberg, in der Übersetzung aus dem Englischen von Maximilian Murmann; 416 Seiten

Bild von Ronald Kötz auf Pixabay

Ein Kommentar zu „Cristina Henríquez – „Der große Riss“

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