„Mit der Zeit gab mir das, was ich las, eine innere Landkarte.“
Sein Zuhause ist eine Hütte, umgeben von reicher Natur aus Wäldern, Bergen und einem Fluss. Im nahegelegenen Dorf leben nur wenige Menschen. Der Alltag des jungen Mannes ist gleichförmig. Mit Tage fällt er Holz, mit Viola trinkt er in der Storstuga Kaffee. Oder er legt sich für ein Nickerchen auf die Küchenbank. Dann entdeckt er einen Stapel Bücher – und seine Welt verändert sich. Fast manisch beginnt er zu lesen, bis er schließlich die Hütte, das Dorf verlässt und in die große Stadt zieht.
Wildnis trifft auf Großstadt
Mattias Timanders Debüt „Dein Wille wohnt in den Wäldern“ führt in zwei ganz verschiedene Welten – in die nahezu menschenleere Wildnis Nordschwedens und in die Metropole. Beide kennt der Autor, der eine beeindruckende Biografie vorweisen kann. Timander, 1998 geboren, wurde als Zwanzigjähriger Bürgermeister der nordschwedischen Stadt Kiruna. Er gehört der Minderheit der Tornedaler an, was sich auch auf seinen Roman niederschlägt; dazu später mehr. Er studierte Literaturwissenschaft in Stockholm und arbeitet heute in der schwedischen Hauptstadt als Autor und Kulturjournalist. Für sein Debüt erhielt er den De-Niols-Jul-Preis und war für mehrere weitere Preise nominiert.

Mich hat der Roman etwas an Knut Hamsuns Frühwerk und nunmehr Klassiker „Hunger“ erinnert, mit dem der Norweger 1890 schlagartig berühmt wurde. In beiden Büchern sucht ein junger Mann, der durch die Stadt streift, einen Platz in der Welt, wobei Hamsuns Held regelrecht um seine Existenz bangt. In beiden Büchern erzählt der Protagonist seine eigene Geschichte, von seinen Erlebnissen, seinen Gedanken und Gefühlen, seinen Ängsten. Timanders Debüt besteht aus drei Teilen: die in Nordschweden und in Stockholm angesiedelt sind, der letztere erzählt von den Geschehnissen nach der Rückkehr des jungen Mannes.
„In dunkelgrauen Fetzen jagten die Wolken über das Flusstal. Das Bergmassiv war vollständig hinter einer Decke verschwunden. Weiße Gänse auf dem See und in der Ebene wurden mitstrichs übers Moor gekämmt. Es lag eine Wehmut über dem Dorf, und keine Tiere waren zu sehen.“
Der Held ist nahezu auf sich allein gestellt. Seine Eltern sind bereits tot. In Stockholm macht er die Bekanntschaft mehrerer Frauen. Er trifft mit Lydia eine Bekannte aus früherer Zeit und lernt Vera kennen, die schreibt. Beide beginnen eine schwierige Beziehung, aus der ein Abhängigkeitsverhältnis entsteht . Er selbst findet den Weg in die Literaturszene, er schreibt Rezensionen, moderiert Lesungen – bis sein Absturz beginnt, er sich tagelang in seiner Wohnung zurückzieht, weder liest, noch schreibt, keine Cafés und keine Kneipen mehr besucht wie sonst.
„Ich fand mich selbst ziemlich rührselig – eine Amsel von einem Zweig auffliegen zu sehen, konnte sich wie was absolut Besonderes anfühlen.“
Seinem Helden verleiht Timander einem besonderen Ton, der sich unter anderem teils in verkürzten Sätzen und in einer markanten Alltagssprache zeigt. So entsteht ein Sog, der einen sehr nah an den Protagonisten zieht. Bildhafte wie poetische Ortsbeschreibungen lassen die Schauplätze vor dem inneren Auge entstehen.
Parlament erkennt Sprache und Minderheit an
Sprachlich geprägt ist der Text vom nordschwedischen und tornedalischen Dialekt sowie der Minderheitensprache Meänkieli. Tornedalen bezeichnet die Region entlang des Flusses Torneälv im finnisch-schwedischen Grenzgebiet. Seit dem 12. Jahrhundert war Tornedal überwiegend durch finnisch-sprachige Bewohner mit eigenem Dialekt (Meänkieli) besiedelt. Durch die Teilung des Gebietes 1809 in einen schwedischen und einen finnischen Part entwickelte sich die Sprache jedoch unterschiedlich. In den 1970er-Jahren begann die Bevölkerung indes, sich auf ihre Sprache zurückzubesinnen und den Dialekt wieder aufleben zu lassen. 1999 wurde Meänkieli als Sprache sowie der Status der finnisch-sprachigen Bevölkerung als Minderheit durch das schwedische Parlament offiziell anerkannt.
Timanders Debüt ist zugleich das zweite Buch des 2024 gegründeten Allee Verlag mit Sitz in München. Mit Verlegerin Veronika Siska an der Spitze, steht der unabhängige Verlag für die Vielfalt literarischer Stimmen in Europa. Der Roman „Die andere Stadt“ des tschechischen Schriftstellers Michal Ajvaz erschien zeitgleich im September. Man kann gespannt sein auf weitere literarischen Entdeckungen. Mit dem herausragenden Erstling des jungen Schweden, großartig von Hanna Granz ins Deutsche übertragen, setzt der Verlag schon einmal ein Achtungszeichen.
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Mattias Timander: „Dein Wille wohnt in den Wäldern“, erschienen im Allee Verlag, in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Hanna Granz; 192 Seiten, 24 Euro
Foto von Sebastian Sandqvist auf Unsplash


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