„Zeit ist bloß ein Gedanke.“
Will liegt im Koma. Der Cree-Indianer wurde Opfer eines brutalen Überfalls, kurze Zeit nachdem er aus der Wildnis wieder in die Siedlung Moosonee hoch oben im Norden Ostkanadas zurückgekehrt war. Seine Nichte Annie harrt an seinem Krankenbett aus und erzählt ihm ihre Erlebnisse, die sie in die Big-Cities Toronto und New York auf der Suche nach ihrer Schwester Suzanne führten, die spurlos verschwunden war. Annie hat dabei viel zu erzählen: von ihrer Begegnung mit dem stummen Gordon, der, ebenfalls indianischer Abstammung, nicht mehr von ihrer Seite weicht, von ihrer Zeit als Model in der Glitzerwelt der Mode, in deren Kreise auch ihrer Schwester zu finden und bekannt war.
So prallen zwei unterschiedliche Kulturen im Roman „Durch dunkle Wälder“ des kanadischen Autors Joseph Boyden aufeinander: die ursprüngliche und einfache Lebensweise der Indianer in der Wildnis gegen die moderne Welt des Westens mit ihren Gefahren und Verlockungen, denen auch Will und Annie ausgesetzt sind beziehungsweise sich nicht entziehen können. Will ist dem Alkohol verfallen, nachdem er durch ein schreckliches Unglück seine Familie verloren hat. Mit seinen beiden Kumpanen trinkt er meist über den Durst. Die Zeit, als er als Pilot Touristen geflogen und damit sein Einkommen gesichert hat, ist längst vorbei. Der Rückzug in die Wildnis, in der sich Eisbär und Wolf „Guten Tag“ sagen und in der jeder kleine Fehler mit dem Tod bestraft werden kann, sollte ein Neuanfang sein, nachdem er wegen der stetigen Bedrohung durch Gang-Mitglieder zur Waffe greift. Doch wenige Wochen später entscheidet er sich für die Rückkehr mit fatalen Folgen.
Boyden, 1967 in Kanada geboren und selbst Nachfahre von Indianern, lässt beide, sowohl Will als auch Annie, rückblickend zu Wort kommen. Beide berichten abwechselnd von ihren Erfahrungen und Erlebnissen. Will erinnert sich zudem an seine Kindheit und seinen Vater, der im Ersten Weltkrieg in Europa zum Einsatz kam. Jene Geschichte, die sich einem kaum bekannten Thema widmet, findet sich in Boydens Romandebüt „Der lange Weg„, mit dem der Kanadier auch hierzulande lobende Kritiken eingeheimst hatte und dadurch bekannt wurde.
Dabei setzt der Nachfolger nicht nur an das Geschehen fast nahtlos an. Auch „Durch dunkle Wälder“ besticht durch eine besondere Geschichte, erzählerisches Können, eindrucksvolle Charaktere und einem ernsten, gesellschaftlich relevanten Thema, das tiefgründig aufgearbeitet wird. Boydens neuestes Werk kann man auf zweierlei Weise lesen: sowohl als spannenden Thriller als auch als wichtige und kritische Auseinandersetzung mit den Kulturen. Denn Boyden hält nicht nur der modernen westlichen Welt einen Spiegel vor. Auch das Scheitern seiner indianischen Landsleute, die von den Auswüchsen der Moderne schier vergiftet zu sein scheinen, stehen hier am Pranger. Der Rückzug in die Wildnis, sofern dafür geeignet, scheint ein Ausweg zu sein. Ein anderer könnte in der Gemeinschaft liegen – wie das Happy-End am Schluss des Buches beweist.
„Durch dunkle Wälder“ von Joseph Boyden erschien 2010 im Knaus-Verlag, 2012 als Taschenbuch bei btb, in der Übersetzung aus dem Englischen von Ingo Herzke.
448 Seiten, 10,99 Euro