„Kunstwerke sind Rätsel, die sich der Vernunft entziehen.“
Gut geschützt und sicher liegt sie im Tresor des Antiquitätenhändlers Felix Ardevol: die wertvolle Storioni-Geige aus dem 18. Jahrhundert. Adrià, sein Sohn, erhält nie die Gelegenheit, auf ihr zu spielen, geschweige denn sie einmal für längere Zeit in die Hand zu nehmen. Eines Tages geschieht jedoch das Unglück: Adrià, der das Instrument aus dem Tresor heimlich entwendet und seinem spielenden besten Freund Bernat zum Üben überlässt, verliert seinen Vater. Ardevol, der zu einem geheimen Treffen mit der Übungsgeige seines Sohnes anstatt mit der vermeintlichen Storioni-Geige loszieht, wird auf grausame Art und Weise ermordet.
Und es soll nicht das einzige Geheimnis bleiben, das erst Jahre später ans Tageslicht kommen soll. Der neue Roman „Das Schweigen des Sammlers“ des katalanischen Autors Jaume Cabré, der, 1947 in Barcelona geboren, vor einigen Jahren in Deutschland mit seinem Roman „Die Stimmen des Flusses“ sehr erfolgreich war, ist voller Rätsel, die sich mit den Seiten des überaus dicken Werkes auflösen.
Cabré spannt einen zeitlichen Bogen, der nicht nur das Leben des Adriá beinhaltet, seine eher schwierige Kindheit und Jugend angesichts strenger Eltern, sein umfassendes Studium, das spätere erfolgreiche Berufsleben als Geisteswissenschaftler und seine Liebe zu Sara. Der Spanier nimmt den Leser auf eine spannende Reise durch die Jahrhunderte – vom Mittelalter und der Geschichte eines abgelegenen Klosters, über jenen Mann, der im 18. Jahrhundert das Holz für die Geige ausfindig macht bis hin zur dunklen NS-Zeit und das Trauma des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust. Denn der Antiquitätenhändler ist alles andere als ein feiner Mann. Mit der Hilfe von Unterhändlern macht er Geschäfte mit dem Besitz jüdischer Familien, die noch fliehen konnten oder in den Konzentrationslagern getötet werden. Auch jene Geige erzählt eine solche erschütternde Geschichte einer Familie, die von der SS in Holland festgenommen und bis auf ein Mitglied der Familie in Auschwitz umkommen wird.
Cabré stellt in diesem Zusammenhang auch die Frage, was das Böse ist, was es auszeichnet, wie es entsteht. Er wagt dabei nicht nur einen Blick in die Vorhöfe der Hölle in Auschwitz-Birkenau, er erzählt, wie zwei ranghohe Ärzte, verantwortlich unter anderem für grausame Versuche an Kindern, nach dem Krieg untertauchen, weiter praktizieren, in einem Beispiel allerdings auch Buße tun. Besonders in jenen Szenen fällt jenes stilistisches Merkmal des Romans auf: die schnellen Übergänge von Zeit und Raum. Kein Absatz, keine Überschrift trennen die einzelnen Zeiten voneinander, manchmal fließen sie nahezu ineinander über, wie die Szenen in Auschwitz mit denen des Mittelalters, wo die Inquisition Gewalt aussät im Namen der Kirche. Dabei stellt nicht nur jenes Karussell der Epochen eine Herausforderung an den Leser, bei dem sich Zeiten und Schauplätze manchmal sogar schnappschussartig abwechseln, auch die Erzählweise wandelt sich. Mal lässt Cabré Adrià aus der Ich-Perspektive berichten, mal in der Er-Form. Erst am Ende wird auch dieses Rätsel gelöst.
Dieses rund 840-seitige Buch ist dabei sowohl stilistisch als auch thematisch ein Wunderwerk. Cabré versammelt viele Themen des Lebens und widmet sich ihnen auf unheimlich kluge Art. Die Bedeutung von Kunst findet sich hier ebenso wie die Rolle der Freundschaft und die Kraft der Liebe. Geschaffen hat der Katalane eine spannend zu lesende Geschichte und Personen, deren Geschichte und Schicksal ans Herz gehen, sei es die jüdische Familie, die des Holzexperten Jachiam oder Adriàs Frau Sara, die vor ihrem Mann eine lange Zeit ein trauriges Geheimnis verbirgt. Diesem unheimlich aufwühlenden wie auch erhellenden Roman sind viele Leser zu wünschen. Sein Schöpfer hat acht Jahren daran geschrieben.
Der Roman „Das Schweigen des Sammlers“ von Jaume Cabré erschien im Insel-Verlag, mittlerweile auch als Paperback-Ausgabe im Insel-Taschenbuch-Verlag, in der Übersetzung aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt und Petra Zickmann.
845 Seiten, 9,99 Euro
klingt interessant, ist mir aber momentan zu dick!
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