Ilja, Sanja und Micha leben in gefährlichen Zeiten, an einem gefährlichen Ort. Man schreibt die Mitte des 20 Jahrhunderts. Der große vaterländische Krieg wurde gewonnen, doch auch nach Stalins Tod haben die russische Diktatur und ihr Netz aus Geheimdienst und Partei nicht an Schrecken verloren. Die Menschen leben in Angst vor Verrat, vor einer Verbannung, den Lagern in Sibirien. Nur die Literatur und die Werke der großen Namen wie Puschkin und Pasternak helfen den drei Jugendlichen über die schwierigen Jahren.
Entfacht hatte die Begeisterung für Dichtung ihr Literaturlehrer Viktor, der mit einer Gruppe aus Schülern die Straßen Moskaus auf der Suche nach literarischen Orten durchstreift – wo berühmte Schriftsteller Spuren hinterlassen, ihre Helden gewirkt haben. Die Literatur wird die drei das ganze Leben nahezu verfolgen, obwohl sie beruflich in anderen Bereichen wirken: Sanja wird Musikwissenschaftler, Ilja arbeitet als Fotograf und agiert im Untergrund, vermittelt unter anderem verbotene Schriften. Micha, erst an einer Schule für Taubstumme tätig, bevor er fälschlicherweise denunziert wird, engagiert sich später für eine Kulturzeitschrift und unterstützt die Tatarenbewegung.
Der Roman „Das grüne Zelt“ der russischen Autorin Ljudmila Ulitzkaja, 1943 in Baschkirien geboren, ist nicht nur ein Buch über jene drei Freunde und ihren Lehrer. Die Zeitspanne, die das Werk umfasst, reicht von den 60er Jahren bis in die 90er Jahre und umfasst mit einem großen Aufgebot aus handelnden Personen das gesamte Umfeld der Protagonisten, von Freunden, Feinden und Familienmitgliedern angefangen bis hin zu den späteren Frauen. Zwar geht mit der Zeit jeder seinen eigenen Weg, doch die Fäden der Freundschaft bindet und führt sie vor allem in schwierigen Zeiten immer wieder zusammen. So wunderbar liebevoll Ulitzkaja die drei Helden entwirft und ein herausragendes gesellschaftliches, politisches und kulturelles Panorama jener Jahrzehnte erschafft, so herausfordernd ist auch ihr nahezu 600-seitiges Werk. Immer wieder wird der Zeitfluss unterbrochen, um Geschehnisse mit anderen Personen zu anderen Zeiten hineinzuflechten mit Voraus- und Rückblicken, so dass ein Mosaik entsteht. Hinzu kommen viele Verweise auf Werke der russischen Literatur, die ein Laie so womöglich nicht kennt, die aber auch das Interesse für eine weiterführende Beschäftigung wecken könnten.
Trotzdem: Neben der Herausforderung als Lektüre reizt der Roman vor allem mit seinem Vermögen, dem Leser die damaligen Geschehnisse, diese Ungerechtigkeit angesichts des menschenverachtenden despotischen Regimes nahe zu bringen. Wer gute Verbindungen zum KGB hatte, in den Reihen der Partei seinen Mann oder Frau stand, hatte meist wenig zu befürchten, es sei denn, Denunziationen, die an der Tagesordnung standen, brachten jene in Bedrängnis. Aufgrund der Gefahren entschließen sich schließlich Sanja und Ilja, das Land zu verlassen. Micha wird nach einem dreijährigen Lageraufenthalt alles verlieren. Die Frau, seine Tochter, das Leben, unter anderem auch weil er seine Mitstreiter nicht verraten will. Nicht nur sein dramatisches Schicksal macht den Leser betroffen. Schließlich waren es unzählige, die mit ihrer Meinung und Anschauung, ihren familiären Wurzeln und Traditionen und ihrem Lebensstil nicht ins Bild der Sowjetunion passten, für antirussisch oder Vaterlandsverräter erklärt und verfolgt wurden. Für sie könnte dieses Buch geschrieben worden sein – sowohl als Erinnerung als auch als Mahnung für spätere Generationen.
Der Roman „Das grüne Zelt“ von Ljudmila Ulitzkaja erschien im Carl Hanser Verlag, in der Übersetzung aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
592 Seiten, 24,90 Euro