Grenzenlos – Carol Birch "Der Atem der Welt"

„Ich kann überall hin. Die Welt ist grenzenlos. Endlos, und nichts ist sicher, und nichts ist gleich.“

Er will ja nur diese große warme Nase anfassen, sie berühren, sie fühlen. Dass diese große Nase indes zu einem riesigen Raubtier, einem ausgewachsenen Bengal-Tiger gehört, ist Jaffy in diesem einen Moment egal. Auch, dass er wenig später von der Großkatze im Schlafittchen gepackt wird, macht dem Jungen nichts aus. Obwohl die Menschen in der Nähe aufschreien, bereits den Tod des Jungen vor Augen haben. Doch für Jaffy wird sich mit dieser besonderen Begegnung die Welt ändern, weil er sie in ihrer Unendlichkeit sehen wird.

Die große Welt zeigt sich zu Beginn des Romans „Der Atem der Welt“ der englischen Autorin Carol Birch in eben jenem entlaufenen Tiger. Er ist der erste Exot, den Jaffy auf seinen Entdeckungen in den Londoner Docklands kennenlernt. Weitere sollen folgen, wie Affen, Schlangen und Vögel, die alle mit dem Schiff nach London gekommen sind und in Käfigen und Hallen ihr kärgliches Dasein fristen. Dies ist das Geschäft von Charles Jamrach, Naturforscher und Importeur von Säugetieren, Vögeln und Muscheln. Für ihn wird Jaffy wenig später arbeiten – an der Seite von Tim, einem Jungen, der ebenfalls zu Jamrachs Geschäft gehört. Eines Tages erhalten beide ihre große Chance, sich einen Traum zu erfüllen. Auf einem Walfänger soll es an der Seite von Dan Rhymer, der schon mehrfach in der Weltgeschichte für Jamrach unterwegs war, auf eine Reise zur anderen Seite der Welt gehen. Für einen Auftraggeber soll ein „Drache“ (vermutlich ist damit ein Komodorwaran gemeint) gefangen und nach England gebracht werden. Jaffy lässt seine Mutter, Tim seine Eltern und die Schwester Ishbel zurück.

Zu Beginn noch von der Seekrankheit gebeutelt, erliegt Jaffy wenig später dem Zauber des Meeres, seiner Weite und Uferlosigkeit, der Fremdheit exotischer Orte. Die Arbeit auf dem Walfänger ist hart, die Mitglieder der Mannschaft nicht gerade immer freundlich auf die unerfahrenen „Greenhorns“ gestimmt. Das Glück ist der Mannschaft hold, bis der Drache gefangen und an Bord gebracht wird. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Das Tier entkommt, mehrere Tornados lassen das Schiff kentern, ein Teil der Crew überlebt das Unglück nicht. Der geringe Rest einer einst starken Mannschaft macht sich in zwei Fangbooten auf die Rückreise, die die meisten nicht überleben werden. Der nackte Kampf ums Überleben zwingt auch die Freundschaft von Tim und Jaffy heraus – bis zum bitteren Ende.

Wie das unermessliche Leid einer Handvoll Männer – sie hungern, sie haben Durst, sie leiden an Skorput, Sonnenbrand und offenen Geschwüren – auf nur wenigen Quadratmetern Holz inmitten des riesigen Pazifiks erzählt wird, lässt den Leser erschauern. Dieser Teil des Buches bildet einen starken Kontrast zu den Anfangskapiteln, in dem Jaffy und Tim noch voller Freude und Hoffnung den Abenteuern der Reise entgegensehnen. Der Plot – der zwei reale Geschichten verarbeitet – ist auf jeder Seite packend erzählt. Nicht nur ein Farbfilm zieht da im Kopf des Lesers vorüber, man kann nahezu sowohl den Schmutz der Docklands und den üblen Geruch des Waltrans als auch die exotischen Düfte der fernen Inseln riechen. Jeder Figur haucht Birch auf besondere Art und Weise Leben ein, jedes Mitglied der bunt gemischten und durcheinander gewürfelten Crew des Walfängers hat seine speziellen Eigenheiten, eine eigene Geschichte zu berichten. Allen voran den charismatischen Dan und den verrückten Skip. Die Autorin bringt Jaffy zwar wohlbehalten, aber gezeichnet von der Unfassbarkeit der Ereignisse zurück nach London.

Wie sie den nun erwachsenen Mann wieder zurück ins Leben holt, zeigt eine besondere Gabe für das Erzählen. Wie sie Worte findet für die Unermesslichkeit des Ozeans, für die Kraft der Naturereignisse und die daraus entstehende Demut des Menschen, ist einfach meisterhaft. Wer eine abenteuerliche Reise erleben will und zugleich eine berührende, nachdenklich stimmende Weisheit zwischen und in den Zeilen erfahren will, sollte dieses Buch lesen und dann weitergeben oder empfehlen, damit es möglichst viele lesen. Der Roman stand auf der Shortlist des Man Booker Prizes 2011, Carol Birch hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht und wurde mit dem David Higham Award geehrt.

Der Roman „Der Atem der Welt“ von Carol Birch erschien bereits als Taschenbuch im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Christel Dormagen.
393 Seiten, 9,99 Euro

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