Wunschkind – Eowyn Ivey "Das Schneemädchen"

Der Schnee macht aus Mabel und Jack wieder Kinder. Sacht und leise fallen die Flocken, die Kälte beißt, während das Ehepaar sich mit Schneebällen bewirft, um im Rausch dieser Leichtigkeit schließlich eine Figur zu formen. Ein Schneemädchen entsteht – mit einem niedlichen Gesicht sowie wärmenden Fäustlingen und einem Schal. Am nächsten Tag ist das Mädchen zerstört, Handschuhe und Schal sind spurlos verschwunden. Wer kann in der Wildnis Alaskas, wo die nächsten Nachbarn mehrere Kilometer entfernt wohnen, dies getan haben, fragen sich die beiden. Eine Antwort erhalten sie wenig später: Ein blondes kleines Mädchen taucht plötzlich auf.

Für das Paar geht ein Wunsch in Erfüllung. Sie sehnen sich nach einem Kind, nachdem ihr Sohn vor zehn Jahren leblos auf die Welt kam. Vor allem Mabels Wunsch war es daraufhin, die Heimat im Osten der USA zu verlassen, um im hohen Norden ein neues Leben als Siedler an der neu entstehenden Eisenbahnstrecke zu werden. Das Schneemädchen – so heißt auch der Roman der Autorin Eowyn Ivey – nimmt das Paar auf wie eine Tochter, doch Faina zieht es rätselhafterweise nach kurzen Besuchen im Holzhaus immer wieder zurück in die Kälte und die Wildnis, mit dem ersten Frühlingserwachen bleibt sie gänzlich verschwunden. Während Jack dem Geheimnis des Mädchens auf die Spur kommt, glauben die Bensons, mit denen sich Jack und Mabel anfreunden, nicht an das Kind, das es so lange in der unwirtlichen Landschaft mit ihren wilden Tieren aushält. Auch Jack und Mabel erfahren, wie schwer es ist, in Alaska Fuß zu fassen und zu überleben.

Eines Tages erinnert sich Mabel an ein russisches Märchen, das sie als Kind gelesen hatte und zu dem Bücherschatz ihres Vaters, eines Literaturprofessors, zählte. Darin wird eben dieses Erlebnis des Paares geschildert: ein Schneemädchen wird, von Mann und Frau erschaffen, lebendig. Das traurige Ende verändert Mabels Verhältnis zu Faina. Sie gibt ihr mehr Freiraum, und Faina kommt mit jedem beginnenden Winter zurück.

Doch das ist natürlich nicht das Ende. Die Autorin verändert zwar für ihren Roman den Schluss des Märchens, das die Grundlage bildet, ein Happy End wird es allerdings geben. Allgemein  durchzieht diese wunderbar erzählte, allseits spannende wie anrührende Geschichte ein melancholischer Unterton: Der Wunsch, ein Kind zu bekommen, scheitert, Heimat und Familie sind mit dem Wegzug weit in die Ferne gerückt, das erhoffte Glück mit dem Neuanfang in Alaska muss erst erkämpft werden. Eowyn Ivey stammt selbst aus Alaska, weiß um das schwierige Leben in einem Landstrich, der alles von seinen Bewohnern abverlangt. Sicherlich ist die Natur einzigartig und unglaublich reich, das Überleben darin allerdings nicht selbstverständlich. Für manche wird es deshalb vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig sein, wenn die Autorin die Jagd und das Ausnehmen der erlegten Tiere detailreich beschreibt – auch die feengleiche Faina erscheint nicht als Engel, tötet selbst, um Nahrung zu erhalten. Diese Szenen stehen da im Kontrast zu jenen, in denen die Beziehung der Menschen zueinander geschildert werden: die immer noch sehr warme, herzliche Ehe von Jack und Mabel, trotz kleiner Differenzen, die enge Freundschaft zu den Bensons, diewachsende Bindung zu Garrett, dem jüngsten Sohn der Bensons.

Wer märchengleiche Geschichten mag, wird dieses Buch „verschlingen“. Trotz der geschilderten Kälte des Nordens erwärmt das Buch auf seine Art und Weise. Die gebundene Ausgabe wird der zauberhaften Story durch einen wunderbar gestalteten Einband und kleinen Zeichnungen gerecht und erweist sich als ein besonderes (Weihnachts)-Geschenk für andere oder für sich selbst. 

Der Roman „Das Schneemädchen“ von Eowyn Ivey erschien im Kindler Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Arlinghaus, Margarete Längsfeld und Martina Tichy.
464 Seiten, 19,99 Euro     

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