„Die meisten Menschen vertrauten auf die Zukunft und nahmen an, dass sich die Version davon entfalten würde, die ihnen am liebsten war. Sie planten blind dafür und stellten sich die Dinge vor, die nicht der Fall waren. Das war das Wirken des Willens. Das gab der Welt Richtung und Ziel. Nicht das, was da war, sondern das, was nicht da war.“
In ihrer Kindheit sind sie grundverschieden, doch unzertrennlich. Der eine ist schüchtern, zurückhaltend, der andere prescht vor, kennt keine Scheu oder Grenzen. Die Brüder Udayan und Subhash wachsen in Kalkutta auf. Indien hat gerade die ersten Jahre als unabhängiges Land erlebt. Beide haben sich den Naturwissenschaften verschrieben, beginnen ein Studium an unterschiedlichen Universitäten. Doch die Aufstände der kommunistischen Naxaliten treiben einen Keil in die enge Verbindung. Denn Udayan sympathisiert mit der Gruppe, die, orientiert an der Politik Maos in China, einen gesellschaftlichen Umbruch herbeiführen will. Während sich die Unruhen verschärfen, verlässt Subhash das Land in Richtung Amerika. er will sein Studium der Ozeanografie in den USA in Rhode Island fortführen. Wenige Jahre vergehen, bis eine Nachricht Subhash zu einer Rückkehr zwingt. Sein Bruder ist von der Polizei festgenommen und wenig später erschossen worden, da er einer Gruppe Attentäter angehört.
In ihrem Roman „Das Tiefland“ erzählt die indischstämmige und in den USA aufgewachsene Autorin Jhumpa Lahiri von einem Leben zwischen zwei Kontinenten. Denn Subhash kann nach der Rückkehr in seine neue Heimat die Bande zu seiner Familie nicht lösen. Ein Grund ist auch Gauri, Udayans schwangere Freundin, die er mit nach Amerika genommen hat. Zusammen leben sie mit der später geborenen Tochter Bela als kleine Familie – jedoch nicht durch Liebe, sondern durch einen Kompromiss verbunden. Während sich Subhash liebevoll um das kleine Mädchen kümmert, verliert Gauri trotz ihrer Mutterrolle jegliche emotionale Bindung an das Kind und geht auf Distanz. Als Subhash erneut nach Indien gerufen wird, da seine Mutter schwer erkrankt ist, ihn zudem Bela begleitet, nutzt Gauri, die ihr Philosophie-Studium wieder aufgenommen und erfolgreich beendet hat, diese Gelegenheit und verlässt die Familie.
Mit jedem Kapitel sieht man die Zeit vorbeifließen, folgen Jahre auf Jahre, Jahrzehnte auf Jahrzehnte. Subhash Gedanken werden durch die Erinnerungen an seinen Bruder, die Eltern und die Kindheit in Indien geprägt. Während Subhash ein beständiges Leben in Rhode Island führt, entwickelt sich Bela zu einer Einzelgängerin, die durch das Land tourt, in den verschiedenen Orten ökologische Landwirtschaft betreibt. So entwirft die Autorin nicht nur verschiedene Charakter, sondern auch unterschiedliche Lebenswege. Die Zeit fließt, Menschen und Orte verändern sich. So auch Kalkutta und das nahe des Elternhauses gelegene Tiefland, das dem Roman seinen Namen gegeben hat. Mit den Jahren verliert es seine besondere Schönheit und macht schließlich Platz für ein Wohngebiet. Trotz dieser Entwicklung gibt es Beständigkeit: das nie abreißende Band zwischen Bela und Subhash, die Traditionen seines Heimatlandes, ein Leben, das neben der Gegenwart von der Geschichte gezeichnet wird.
Dieser großartige Familienroman entwickelt mit den ersten Seiten einen besonderen Sog. An die Charaktere gebunden, verfolgt der Leser ein Menschenleben, gezeichnet durch Entscheidungen, Fehler, Konflikte und Erinnerungen. Auch der Tod begleitet dann und wann das Geschehen. Gegen das drohende Lebensende, gegen Kälte und schmerzliche Verluste setzt die Geschichte mit ihrer schönen Prosa Warmherzigkeit, Vergebung, Liebe und die Kraft der Familienbande. Wie Lahiri all diese großen Themen in diese besondere, weil berührende Geschichte hineinwebt, inmitten des kraftvollen Erzählflusses auch ruhige Momente wie kleine Inseln hineinsetzt, verdient großen Respekt und vor allem ganz viele begeisterte Leser. Vor Vergleichen mit großen Namen der amerikanischen Gegenwartsliteratur und ihren Werken braucht sich die Autorin und Pulitzerpreisträgerin keinesfalls zu scheuen.
Der Roman „Das Tiefland“ von Jhumpa Lahiri erschien im Rowohlt Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Gertraude Krueger.
528 Seiten, 22,95 Euro