„Unfassbar: Wieviele Menschen nötig waren, um mich hervorzubringen. Hoffentlich ist keiner von den Toten enttäuscht. Mir reichen schon die Lebenden.“
Das Leben ist keine beschauliche Segelfahrt. Es ist vielmehr eine Segelfahrt mit einem leck geschlagenen Schiff bei Sturm, wo der Kompass recht frühzeitig von Bord gegangen ist. Das Leben kennt kein Erbarmen, beschert uns die kleinen und großen Katastrophen, die kleinen und großen Schicksalsmomente.
Die Helden in den Erzählungen von Karen Köhler haben jene Erfahrung reichlich gemacht. Gezeichnet von den Tragödien, nehmen sie das Leben wieder auf oder versuchen, es durchzustehen. Wie jene junge krebskranke Frau, deren Vertrauter im Krankenhaus plötzlich verstirbt („Il commandante“) oder jene Protagonistin, die sich nach dem überraschenden Tod ihres Mannes sowie den ihres Kindes sich auf einen Hochstand und in die einsame Wildnis verkriecht („Wild ist scheu“).
Neun Erzählungen vereint der im Hanser Verlag erschienene Band. Und trotz der unterschiedlichen geschilderten Charaktere gibt es Gemeinsamkeiten, die alle Texte verbinden. Es geht um den Verlust eines geliebten Menschen und/oder die Gewalt in verschiedenen Formen. In „Familienporträts“ beschreibt die Autorin anhand mehrerer Miniaturen die Gräben zwischen den Generationen, aber auch die unsichtbaren Bande, die Eltern und Kinder trotz alltäglicher Schrecklichkeiten zusammenhalten.
Und es geht um Begegnungen: In „Cowboy und Indianer“ trifft die Heldin in der Wüste nahe Las Vegas auf einen Indianer. In „Name. Tier. Beruf“ kommt ein junger Mann nach vielen Jahren zurück in seinen Heimatort. Die Schwester seiner einstigen Freundin konfrontiert ihn mit Geheimnissen der Vergangenheit. Aber „Wir haben Raketen geangelt“ ist kein tieftrauriges Buch. Hier treffen vielmehr Witz und Humor auf Tragik und Tragödien. Wenn sich die Geschichte wie ein stiller beschaulicher See ausbreitet, schlagen plötzlich die Katastrophen wie ein Meteroit ein. Während man noch vor einigen Minuten angesichts humorvoller Schilderungen oder herrlicher Situationskomik gelächelt oder leise gegluckst hat, kommen jene Schicksalsschläge für den Leser überraschend und treffen ihn mit voller Wucht. Eine neue Sicht auf die Dinge entsteht, die Geschichte der Protagonisten fügt sich wie ein Mosaik aus hellen und dunklen Steinen zusammen.
Der Erzählband „Wir haben Raketen geangelt“ von Karen Köhler erschien im Hanser Verlag.
240 Seiten, 19,90 Euro
Liebe Constanze,
danke für die schöne Besprechung. Ich kann Dir nur zustimmen, denn ich war genauso begeistert von diesen Erzählungen, wie Du. Vom ganz eigenen, poetischen Ton, den Karen Köhler für ihre Topoi findet, von der Virtuosität im Umgang mit den unterschiedlichen Formen – und vor allem von der hierzulande in den letzten Jahrzehnten nicht besonders häufig vorkommenden Fähigkeit, mit einer geschlossenen Erzählung eine ganze Welt entstehen zu lassen. Für mich sind das eher Short Stories im angloamerikanischen Sinne, als Erzählungen. Da ist nix langatmig, alles kommt auf den Punkt und trotzdem ist es ungeheuer poetisch.
Wie Du schon am Ende Deines Beitrages schreibst: Mehr davon, Frau Köhler!
Liebe Grüsse
Kai
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Vielen Dank, Kai, für Deinen ausführlichen Kommentar. Karen Köhlers Band rüttelt den Leser gehörig durch, bringt ihn zum Lachen und zum Weinen. Ich denke, wie sie es geschafft, die ernsten Themen des Lebens mit dem Humor zu verbinden, das verdient höchsten Respekt. Und trotz der Gemeinsamkeiten zwischen den Geschichten hat sie für jedes Werk eine besondere Idee gefunden. Klasse! Viele Grüße zurück.
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