Wendezeiten – Angelika Klüssendorf „Amateure“

Es kommt nie so, wie man denkt. Es kommt so, wie man nie gedacht hat. Das Netz ist voll von weisen Sprüchen von klugen Leuten. Auch diesen findet man dort. Und zigandere über den Lauf der Welt und des Lebens. Doch meist helfen große Worte nicht im Moment, der letztlich entscheidend sein kann und alles über den Haufen wirft. Jeder erlebt seine eigenen Wendezeiten: ob glückliche oder tragische. Im Erzählband „Amateure“ von Angelika Klüssendorf geht es darum: um das Leben und seinen oft undurchschaubaren Lauf. 

Elf Erzählungen finden sich in diesem schmalen Band. Und keine steht für sich allein, vielmehr sind alle auf besondere Weise miteinander verbunden. Wer aufmerksam die Texte liest, wird es bemerken. Doch erst einmal ein paar Worte, worum es in den Erzählungen geht. Meist sind es Paare, deren Beziehung im Mittelpunkt steht. So Edna und Moritz, die sich beim Mauerfall zum ersten Mal begegnet sind und später zusammen während einer Radtour Mecklenburg entdecken. Katherina und Steffen sind hingegen über den großen Teich geflogen. Ihre Flitterwochen führen sie nach Amerika, wo sie in einem luxuriösen Hotel untergebracht sind, wo ununterbrochen Filme mit Marilyn Monroe über den Haussender flimmern. Moritz und Wiebke haben sich an einem Taxistand kennengelernt, ihre Beziehung wird durch zwei Kinder, Zwillinge, gekrönt. Georg erfüllt sich nach einem Bankraub mit einer Reise einen Traum. Im Flieger zurück in die Heimat erinnert er sich an seine erste große Liebe: die zu Pawel. Und da ist auch noch ein Ehepaar, das über viele Jahre verheiratet ist. Viel haben sie sich nicht mehr zu sagen. Vielmehr machen sie sich gegenseitig das Leben zur Hölle. So übermalt der Mann, ein Künstler, die Bilder seiner Frau.

All diese Personen und Beziehungen werden dabei aus mehreren Perspektiven und teils nach Zeitsprüngen erneut betrachtet. Nicht in der jeweiligen Erzählung, sondern meist in einer der folgenden. Nach und nach setzt sich so ein Mosaik aus manigfaltigen Verbindungen zusammen, das nicht nur Einblicke in das Leben des jeweiligen Paares, sondern auch anderer Personen, die zur Familie gehören oder die sie kennen oder einst gekannt haben, gibt. Meist entdeckt man die Verbindung durch den Namen oder eine kleine Andeutung im Text. Dieses äußerst kluge und kreative Konstrukt, das von der ersten und letzten Erzählung umklammert wird, unterscheidet den Band unter anderem von dem ebenfalls empfehlenswerten Band mit Kultstatus  „Wir haben Raketen geangelt“ von Karen Köhler, in dem vielmehr als verbindendes thematisches Element die Heldinnen von verschiedenen schrecklichen Tragödien heimgesucht werden.

Auch in „Amateure“ geht es um Ereignisse, die vieles verändern. Ob nun durch eine eigene Entscheidung hervorgerufen oder durch „höhere Mächte“, wie beispielsweise einen Flugzeugabsturz oder die politische Wende.  Einigen Charakteren merkt man indes an, dass sie ihr Leben führen, aber nicht immer zufrieden damit sind. Sie scheinen in einem Boot im Fluss des Lebens zu treiben, ohne selbst am Steuer des Bootes zu stehen. Unzufriedenheit macht sich breit oder eben der Gedanke, der Pawel beschleicht, als er vom Tod Georgs, seiner einstigen Liebe, erfährt: Er stellt sein Leben komplett infrage. Oft steht die Beziehung am Scheideweg, herrscht eine Entfremdung, weil es an Kommunikation mangelt, der Mut zur Entscheidung fehlt.

Nicht nur dieses raffiniert gestrickte Netz aus Personen und ihren Lebensgeschichten macht diesen Band zu einem beeindruckenden Leseerlebnis, Angelika Klüssendorfs Sprache – die Autorin, Jahrgang 1958, war 2011 mit ihrem Roman „Das Mädchen“ sowie 2013 für den Roman „April“ für den Deutschen Buchpreis nominiert – bildet die Farbe für ihr Geschichten-Gemälde, das stimmungsvoll, aber trotzdem auf das Wesentliche beschränkt Szenen, Personen und deren Gedanken vermittelt. Ihre Erzählungen erzeugen eine sehr nachdenkliche Stimmung und berühren ungemein. Und sie beweisen, dass sie als kleine literarische Form gegenüber dem Roman als Königsdisziplin in nichts nachstehen. Ganz im Gegenteil! Der Band „Amateure“ ist ein Meisterwerk der Erzählkunst und erscheint mit seinem Aufbau sogar als ein kleiner Roman, der aus mehreren Erzählungen besteht.

Der Band „Amateure“ von Angelika Klüssendorf erschien im S. Fischer Verlag, 144 Seiten, 16,95 Euro

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