„Wenn man etwas nicht anders kennt, weiß man nicht, was einem fehlt.“
Helmer van Wonderen ist kein Freund von Veränderungen. Doch von einen Tag auf den nächsten krempelt der Bauer das Haus um. Vor allem sein kranker und bettlägriger Vater trifft es schwer. Denn er findet sich in einem Zimmer im Obergeschoss unter dem Dach wieder – samt all jener Erinnerungen an das bescheidene Familienleben. Helmer zieht hingegen nach unten und verändert die dortigen Räume von Grund auf. Die Wände werden gestrichen, neue Möbel gekauft. Für Krimskrams und schmückendes Beiwerk ist kein Platz mehr. Doch die Veränderungen im Hause sind nicht die einzigen, die das Leben von Vater und Sohn beeinflussen werden. Eines Tages meldet sich eine Frau aus der Vergangenheit und sorgt im Leben der Männer, die im Debütroman „Oben ist es still“ des Niederländers Gerbrand Bakker im Mittelpunkt stehen, für weitere Turbulenzen.
Es ist Riet, die einstige Freundin und womöglich künftige Frau von Helmers Zwillingsbruder Henk, der als junger Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Seit dieser Tragödie haben sich Riet und Helmer aus den Augen verloren. Jahre sind ins Land gegangen. Während Helmer den Hof der Familie unfreiwillig übernommen hat, war Riet eigene Wege gegangen. Nun meldet sie sich aus dem fernen Brabant wieder mit einer Bitte: Sie hofft, dass ihr 18-jähriger Sohn, der nach ihrer einstigen großen Liebe Henk benannt wurde, als Knecht auf dem Hof arbeiten kann, um seine phlegmatische Untätigkeit abzustreifen. Helmer stimmt zu. Die Zeiten auf dem Hof und nach und nach die unterkühlte Beziehung zwischen Vater und Sohn ändern sich. Das Eis zwischen ihnen taut langsam auf; obwohl Helmer seinem cholerischen Vater nicht verzeihen kann, denn all zu viel war in der Vergangenheit geschehen. Doch der Junge löst in dem Bauern etwas aus. In Erinnerungen blickt er zurück: auf die enge Beziehung zu seinem Zwillingsbruder sowie zu dem engagierten Knecht Jaap, auf die liebevolle Zuneigung, die beiden Brüdern durch die stille, aber herzliche Mutter zuteil wurde, auf den plötzlichen Bruch im Leben, als Henk zu Tode kommt und Helmer an dessen Stelle den Hof übernehmen muss. Wenngleich er ganz andere Ziele und in Amsterdam ein Literatur-Studium aufgenommen hatte. Mit den Jahren und Jahrzehnten hat er sich jedoch seinem Schicksal gebeugt – ungeachtet dass sich das Leben auf dem Land, die Knochenarbeit auf dem Hof als hart und fern jeglicher Idylle erwiesen hat. Die einst geliebten Bücher gerieten in einer Kiste nahezu in Vergessenheit. An ihre Stelle traten die Tiere, Schafe, Kühe und Esel, als geschätzte Gefährten. Nur der Gedanke, keine eigene Familie gegründet zu haben, erfüllt Helmer, mittlerweile in den Fünfzigern angekommen, mit Wehmut.
In dieser stillen Geschichte weht ein sanfter Hauch Melancholie, der jedoch von einer weiteren, indes gegensätzlichen Stimmung begleitet wird: Vor allem in den teils wunderlichen Dialogen oder skurrilen Szenen erweist sich der Niederländer als Freund des heiteren Humors, eines Humors, der einen unweigerlich zum Schmunzeln bringt, aber auch erwärmen kann.
„Er hebt nicht die Hand, ich tue es auch nicht. Vielleicht – und das wäre gut – sieht er alles, was er hier sieht, als alte, vergilbte Ansichtskarte, mit Gebäuden, Menschen, Tieren und Bäumen, deren Zeit für immer stehengeblieben ist, als ein Bild, das man kurz in der Hand hält und dann wieder weglegt. Als einen Ort, an dem er weiter nichts verloren hat.“
Die Schar der Protagonisten ist dabei recht überschaubar. Neben Helmer und seiner Familie nebst Knecht Jaap sowie Riet und ihrem Sohn Henk wird nur noch von der Nachbarin Ada und ihren beiden Söhnen Teun und Ronald erzählt. Sie ist für Helmer eine Ratgeberin, eine Freundin, die zwei Jungen seine treuen Begleiter, die im Trott des Alltags auch für Abwechslung sorgen. Jeder Charakter wird mit seinen prägenden Eigenheiten beschrieben. Bakkers Sprache, meist sind es nur kurze Sätze, ist nur auf den ersten Blick simpel. Viele Szenen bestechen durch einen besonderen Sinn für das Detail, in den einfach erzählten, ganz alltäglichen Dingen und Geschehnissen verbergen sich viel Weisheit und Menschlichkeit sowie die ganzen großen Themen des Lebens.
Das Debüt des 1962 geborenen Autors ist ein wunderbares Buch, das nicht mehr, nicht weniger von der Distanz zwischen den Generationen, von Trauer und Abschied sowie von den schicksalhaften Wendungen eines Lebens zu erzählen vermag. Auf eine menschliche und warmherzige Weise, die einen sehr berührt – dank der trotz aller Marotten noch immer liebenswerten Helden und des oftmals für Überraschungen sorgenden Geschehens. Bakkers Erstling löste in mir große Vorfreude aus – auf seinen kommenden Roman „Jasper und sein Knecht“ (September bei Suhrkamp), der den Leser wieder aufs Land führen wird, sowie die diesjährige Frankfurter Buchmesse, die als Schwerpunkt die Niederlande und Flandern in den Fokus rückt.
Der Roman „Oben ist es still“ erschien im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, und ist bereits als Taschenbuch erhältlich; 315 Seiten, 9,99 Euro
Das ist ein großartiges Buch! Wurde auch verfilmt, den Film konnte ich mir nicht anschauen, weil er ziemlich heftig war, fand ich. Sehr empfehlen kann ich auch „Der Umweg“. Bin auch sehr gespannt auf den neuen Roman.
Liebe Grüße!
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Ach, Du bist auch ein Bakker-Fan! Wie schön. Dann werden wir alle im September voller Vorfreude „Jasper und sein Knecht“ lesen. – Und den „Umweg“ fand ich auch grandios.
Viele Grüße, Claudia
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Ja. Den „Umweg“ werde ich mir notieren und lesen. Bakker hat mich schon mit diesem Debüt überzeugt. Ich war einige Zeit um dieses Buch herumgeschlichen, die Anfangsszene las sich so merkwürdig, aber es hat mich letztlich sehr berührt. Viele Grüße
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Liebe Constanze,
ich mochte „Oben ist es still“ auch sehr, genau wie „Der Unweg“, die Geschichte einer Frau, die nach Wales flieht, ohne jemanden zu sagen, wo sie ist, und dort für drei Monate ein Haus mietet. Bakker scheint die Figuren sehr gut einfangen zu können, die ein Stück weit gebrochen sind vom Leben und sich doch ihre (Frei-)Räume schaffen. Und die Melancholie spielt immer eine große Rolle. – Ja, ich freue mich auch schon auf den September und auf „Jasper und sein Knecht“. Und den „Umweg“ empfehle ich auch – wenn Du den Roman nicht schon gelesen hast.
Viele Grüße, Claudia
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Vielen Dank für deinen Kommentar, Claudia. Jetzt bin ich auch Bakker-Fan, werde das erwähnte und das kommende Buch auch lesen. Bin sehr gespannt. Viele Grüße
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In die Reihe der begeisterten „Oben ist es still“-LeserInnen reihe ich mich gerne ein, allerdings habe ich mit seinen anderen Romanen massiv gefremdelt, sodass ich auch sein neues Buch nicht lesen werde. Aber es ist ja auch mal schön, wenn man dem ein oder anderen Buch widerstehen kann :-) LG, Anna
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Na, da alle schon geschrieben haben, dass sie das Buch wunderbar fanden, schreibe ich das jetzt halt auch noch :-) Mir bleibt vor allem das fast versöhnliche, aber dennoch offene Ende in Erinnerung – da findet einer doch noch seinen Weg, wenn auch spät im Leben. Trotz aller Melancholie auch ein Schuß Optimismus. Eine schöne Besprechung von Dir und ein richtig tolles Bild dazu!
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Du bringst es wunderbar auf den Punkt. Ich muss gestehen, das Foto stammt aus einer Datenbank, auf die ich sehr gern zurückgreifen. Dort bin ich oft auf der Suche nach eher symbolischen Bildern für die Beiträge. Viele Grüße
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Ich gehöre noch nicht zu den Bakker-Fans (einfach deshalb wahrscheinlich, weil ich noch nix von ihm gelesen habe).
Doch – schöner Zufall! – seit ein paar Tagen liegt das Buch hier in meiner Wohnung. Deine Besprechung bestärkt mich darin, mal alle Neuerscheinungen links liegen zu lassen und endlich „Oben ist es still“ zu lesen. Einen schönen Sonntag!
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Vielen Dank, Jacqueline, für Deinen Kommentar. Ich habe das Buch in der Bibliothek entdeckt und wollte es schon länger mal lesen. Nun bin ich auch ein Bakker-Fan und hoffe, der Roman gefällt Dir auch. Persönlich finde ich es wichtig, auch rückblickend Bücher vorzustellen, die schon vor einiger Zeit erschienen sind, um an sie zu erinnern. Viele Grüße nach Berlin und Dir einen schönen Sonntagabend
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