Flucht und Integration beherrschen als Themen derzeit viele Bereiche des öffentlichen Lebens. Auch die Kunst, speziell die Literatur nimmt sich diesen an. Ein Blick auf die Liste neuer Titel aus den vergangenen Monaten beweist es. Bereits 2008 erschien ein Buch, das die Geschichte einer Flucht erzählt. Es ist ein ganz besonderes, nicht nur weil es ohne Wörter auskommt. Der Australier Shaun Tan bannt in seiner Graphic Novel „Ein neues Land“ die Erlebnisse eines Mannes in faszinierenden Bildern, die symbolisch für all jene Menschen stehen, die ihre Heimat verlassen müssen.
Wie dieser Mann heißt, wird nicht bekannt. Sicher ist: Er lässt seine Frau und seine kleine Tochter zurück, nicht ohne Trennungsschmerz und mit der Furcht vor dem Neuen, dem Ungewissen. Auf einigen Bildern ist ein Drachenschwanz zu sehen, der symbolisch für eine Bedrohung stehen kann. Der Mann packt den Koffer, ein Familienfoto hüllt er sorgfältig ein und flieht mit dem Zug aus seiner Heimatstadt, um später mit weiteren Flüchtlingen ein großes Schiff über das Meer zu besteigen. Das neue Land ist anders: Die Menschen sprechen eine andere Sprache, es gibt merkwürdige Tiere, die den Mann staunen lassen – wie auch die Stadt mit ihren hohen Häusern und den vielen Einwohnern. Die Suche nach Arbeit ist nicht einfach, die Einsamkeit kaum auszuhalten. Doch immer wieder trifft der Mann auf Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft sowie Männer und Frauen, die ein ähnliches Schicksal erlebt haben, die vor Krieg, Bedrohung und Verfolgung ihre Heimat verlassen mussten. Obwohl als neue Heimat Amerika und New York angedeutet werden, findet sich der Mann in einem Fantasie-Reich wieder, das anders ist als unsere bekannte reale Welt. Die Gebäude mit ihrer eigentümlichen Architektur, die merkwürdigen Geräte und tierischen Geschöpfe erinnern eher an fantasievolle Kinderbücher und Science-Fiction-Romane.
Mit jedem Bild, das man anschaut, mit jeder Seite, die man umblättert, wird dem Leser, pardon Betrachter klar: Es braucht keine Wörter, nicht einmal viele Farben. „Der Text störte den Fluss der Bilder“, sagte Tan in einem Interview mit der Taz. Es sind diese Zeichnungen, die sprechen, die sowohl das große Ganze fassen, als auch Einzelheiten zeigen, wie beispielsweise Mimik und Gestik als Ausdruck der Gefühle, des Innenlebens der Protagonisten. Mal füllen mehrere Bilder als eine Art Galerie eine Seite, mal ist auf einer Doppelseite nur eine große Zeichnung zu sehen. Alle Arbeiten wurden mit Grafit-Stift auf Papier gebracht und digital koloriert und erinnern in ihrer Gesamtheit an einen Stummfilm. Jedem Werk, ob groß oder klein, wohnt ein Liebreiz inne, dem man sich, ohne dass er die Ernsthaftigkeit der Geschichte zu verschleiern, nur schwerlich entziehen kann. Hinzu kommen sehr viel Vorstellungskraft und die Liebe zum Detail. Das große Thema fließt in eine ungemein berührende Geschichte hinein, die auf der einen Seite sehr speziell wirkt, auf der anderen Seite einen symbolischen Charakter erhält, weil sich die bekannten Ursachen von Flucht und Vertreibung und die Schwierigkeiten des Fremden in einem fremden Land in den Bildern widerspiegeln.

Ein Beitrag über diesen Band sollte indes auch die Geschichte seines Schöpfers erzählen, denn maßgeblich prägte die eigene Familiengeschichte Tans Arbeit. Sein Vater war 1960 von Malaysia nach Australien gekommen, Tan selbst wurde 1974 in Perth geboren. Inspiration fand der Illustrator zudem in verschiedenen Zeitzeugnissen wie Büchern, Bildern und Fotos, die zu unterschiedlichen Zeiten von Immigranten berichteten. Tan hat für sein Schaffen schon zahlreiche renommierte Preise erhalten. So wurde er 2008 für den Band „Geschichten aus der Vorstadt des Universum“ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis geehrt, 2010 gewann er den Oscar für den Kurz-Film „The Lost Thing“, 2011 den Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis. Begonnen hat seine künstlerische Laufbahn bereits im Teenager-Alter, als er für Magazine zu Science-Fiction- und Horror-Geschichten Illustrationen schuf.
Die Graphic Novel „Ein neues Land“ von Shaun Tan erschien im Carlsen Verlag, ist sowohl als Hardcover als auch als Paperback-Ausgabe erhältlich. 128 Seiten, 29,99 Euro oder 128 Seiten, 14,99 Euro
Fotos: Carlsen Verlag, pixabay