„Der Kern unseres Wesens ist nicht anderes als die Anstrengung, die wir unternehmen, um Mensch zu bleiben, nicht zu sterben.“
Belgien ist kein Land, sondern ein Zustand, sagt der Vater von Louis, der jugendliche Held im Roman „Der Kummer von Belgien“. Das Werk von Hugo Claus (1929 – 2008) scheint vieles zugleich zu sein: Entwicklungs-, Familien- wie auch Kriegsroman. Denn obwohl das Land, eingerahmt von Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Luxemburg, für viele mit Blick auf seine Geschichte wohl recht unscheinbar wirkt, hat es auf dem Boden des Königreichs verheerende Schlachten gegeben. Man denke an Waterloo, man denke an Ypern. Im Mai 1940 besetzt die Deutsche Wehrmacht das kleine Land. Und einige deutschfreundliche Belgier machen mit dem Feind gemeinsame Sache.
Dazu zählen auch die Eltern des elfjährigen Louis. Der Vater, ein wenig erfolgreicher Drucker, arbeitet für die Gestapo, die Mutter ist Sekretärin in den ERLA-Werken, die 1934 in Leipzig gegründet worden sind, und steht dem Chef sehr nahe. Der Junge, der bisher seine meiste Kindheit in einem katholischen, von Nonnen geführten Klosterinternat verbracht hat, wird einige Zeit die Uniform der Nationalsozialistischen Jugend Flanderns tragen. Das Land scheint zerrissen zwischen den Kollaborateuren, den Duldern der Besatzer sowie den Widerständlern und wird vom großen Krieg gezeichnet: Bomben fallen, Lebensmittel werden knapp, Personen, selbst enge Vertraute, Freunde, Familienangehörige verschwinden, manchen gelingt die Flucht. Doch viele dieser schrecklichen Ereignisse setzt Claus an den Rand des Geschehens. Sein Blick konzentriert sich auf das Agieren der Personen in dieser aus den Fugen geratenen Zeit. Allen voran die große Familie des Jungen mit ihren drei Generationen, mit Großeltern, den zahlreichen Tanten und Onkeln. Geschwister hat Louis indes keine. Ein ungeborenes Kind stirbt bei der Geburt. Neben dem Internat, das als erster Schauplatz in den Roman einführt, bilden die Städte Walle und Bastegem die spätere Kulisse. Der Stolz der Einwohnern Flanderns auf ihre Heimat und die flämische Sprache – das Französische ist schlichtweg verhasst – spielen eine wesentliche Rolle. Wie auch die Religion. Louis wird nicht nur von den Jahren im katholischen Internat, wo er einen Geheimbund namens“Die Apostel“ anführt, geprägt. Der Großvater des Jungen, kurz Pate genannt, gilt als großer Mann weil auch einflussreicher Gönner der Klosterschule.
Obwohl Louis von herausragenden Männer- und Frauengestalten, zu denen auch der später inhaftierte Priester und Lehrer Eiko zählt, umgeben und von seiner Familie eher als ein wenig hoffnungsvoller Fall mit Blick auf eine große Karriere betrachtet wird, weiß er sich zu behaupten und eine eigene Identität aufzubauen. Mit Witz und Mut, aber auch teils mit Gewalt, was ihn wohl bei den meisten Lesern nicht gerade zu einer Identifikationsfigur werden lässt. Allerdings geht er seinen Weg, wird später die nationalsozialistischen Jugendorganisation verlassen und damit auch die völkische und menschenfeindliche Propaganda hinter sich lassen, in der Kunst, vor allem im Schreiben einen Rückzugsort suchen und finden. Sehr früh macht er erste sexuelle Erlebnisse, indem er ältere Frauen schier entzückt, die ihn kurzerhand für schnelle Abenteuer ergreifen. Schaut man weiter in die Reihen der Protagonisten, erkennt man besondere, oft auch merkwürdige Figuren aus den verschiedensten Schichten, dessen Leben von den Kriegsereignissen bestimmt wird.
„Ist es Verfolgungswahn, an den Teufel zu denken als an jemanden, dem man auf der Straße begegnet, unerwartet, an der nächsten Ecke, in Uniform? Dass das Böse, das von den Menschen auf unübersehbare Weise begangen wird, Gestalt angenommen hat?“
„Het verdriet van Belgie“, so der Originaltitel des bekanntesten Werks von Hugo Claus, erschien 1983 im Amsterdamer Verlag De Bezige Bij, in der ersten deutschen Übersetzung mit dem Titel „Der Kummer von Flandern“, 2016 schließlich in einer aktuellen Ausgabe als Neuübersetzung unter „Der Kummer von Belgien“ – passend zur Frankfurter Buchmesse, die die Niederlande und Flandern zu ihren Gastländern erwählt hatte, um begleitend zum Großereignis an das herausragende Werk zu erinnern. Legt man dabei die Biografie des Schriftstellers, der umtriebig wie er war auch als Drehbuchautor, Regisseur und Maler wirkte, sowie den Inhalt seines Buches nebeneinander, wird man schnell Parallelen entdecken. Claus, der 2003 den Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung erhielt, entstammte einer Druckerfamilie und verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in einem Klosterinternat.
„Der Kummer von Belgien“ beeindruckt dabei nicht nur durch seine Tiefe und den vielschichtigen Themen, den Einfluss der politischen Ereignisse auf das Leben der Menschen, ob jung oder alt. Es sind auch seine Sprache und seine Form, die den Roman aus der Masse der Kriegsbücher herausragen lassen, aber auch eine Herausforderung an den Leser stellen. In zwei größere Abschnitte untergegliedert, beinhaltet das umfangreiche Werk zwar einen roten Faden. Allerdings zeichnet sich das Buch durch seinen episodenhaften Charakter aus. Diese eher mosaikhafte Kleinteiligkeit wird man auch in der Sprache bemerken. Blicke auf das Geschehen wechseln sich mit lebendigen Dialogen sowie Gedanken, Wünschen und teils auch surrealen Träumen des Jungen ab. Viele Verweise und Anspielungen auf die Geschichte und Kultur Flanderns finden sich ebenso. Die Neuausgabe enthält zwar einen Anhang mit Erklärungen. Aber ein Personenregister, um dem Leser den Überblick über die Protagonisten und ihre Verbindungen zueinander zu erleichtern, wäre wohl hilfreich gewesen. Aber „Der Kummer von Belgien“ ist allgemein kein Buch, das man so ohne Weiteres „verschlingen“ wird. Vielmehr stellt es seine Ansprüche, wächst man mit ihm. Und jene Sorte Bücher sind bekanntlich rar gesät.
Hugo Claus: „Der Kummer von Belgien“, erschienen im Klett-Cotta Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert; 823 Seiten, 34,95 Euro
Foto: pixabay
Das ist eines meiner Lieblingsbücher! Ich habe es zwar in der alten Übersetzung vor einigen Jahren noch als „Kummer von Flandern“ gelesen, habe mich aber sehr gefreut, dass es jetzt wieder neu aufgelegt wurde. Sehr schön von dir besprochen!
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Dein Kommentar hat mich sehr gefreut, liebe Elvira. Obwohl Du mich damit eher überraschst. Ich hätte den Roman gar nicht als eines Deiner Lieblingsbücher angesehen. Vor allem weil Kriegsgeschichte(n) eher nicht von Frauen gelesen wird, oder irre ich mich da? Viele Grüße nach Berlin
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ach, ich bin ja offen für alle möglichen Arten der Literatur. Bücher die im 2. oder auch im 1. WK spielen, habe ich ja schon einige gelesen. Aber das hier hatte mich eher interessiert, weil ich mich für Belgien interessiere, auch schon öfter mal dort war – und weil Hugo Claus halt als Vertreter der Weltliteratur dort gilt. Aber ich wurde auch wirklich nicht enttäuscht, es ist ein großartiges Buch!
liebe Grüße,
Elvira
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