„(…), dass ein Land nie nur einziges ist.“
1962 – Algerien erlangt die Unabhängigkeit von Frankreich. Nach acht Jahren Krieg, der Menschen das Leben nahm, Familien zerriss. Weil die einen in den Untergrund gingen und sich der Befreiungsarmee angeschlossen haben, weil die anderen auf der Seite der Besatzer standen, oder weil einige zwischen den Fronten zerrieben wurden. 1962 flieht Ali, der einst an der Seite der Franzosen im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat und als „Harki“, als Kolloraboteur, gilt, mit seinem ältesten Sohn Hamid über das Mittelmeer nach Frankreich, seine Frau Yema und die weiteren Kinder kommen später nach. Diese Zerrissenheit zwischen den Kulturen und der Verlust der Heimat spiegelt sich in der Familie wider. Sie führt zu Ängsten und Traumata, zu Konflikten zwischen den Generationen. Die Französin Alice Zeniter hat darüber mit „Die Kunst zu verlieren“ einen herausragenden Roman geschrieben.
Das Land der Familie noch nie gesehen
Die Handlung setzt als Prolog ein mit der jüngsten Generation, mit Naïma, Tochter Hamids und Enkelin Alis, der in Algerien angesehen und betucht war, bis der Krieg auch sein Dorf erreicht. Die junge Frau arbeitet in einer Pariser Galerie. Sie hat Algerien, das Land ihrer Familie, noch nie gesehen. Doch sie wird es sein, die sich näher damit beschäftigt, während ihr Vater sich schon davon losgesagt hat. Der Anstoß ihres Interesses wird erst später, im dritten Teil des Buches geschildert: Sie soll eine Ausstellung eines algerischen Künstlers vorbereiten. Auch wenn sie selbst nicht die Erzählerin des Geschehens ist, taucht Naïma, die zur Geschichte des Landes und ihrer Familie recherchiert, in den beiden ersten Teilen, in denen vor allem die Lebensgeschichten von Ali und Hamid berichtet werden, regelmäßig auf.
Die Gewalt und der Hass treffen alle Familienmitglieder. Während Ali und seine Frau sowie die Erstgeborenen in Algerien Zeugen der Verbrechen während des Krieges werden, mit der Angst leben, selbst eines Tages womöglich getötet zu werden, ist die Gewalt nach der Ankunft in Frankreich eine ganz andere, eine eher physische. Denn die Familie lebt zwei Jahre ausgegrenzt vom Rest des Landes in einem Zelt in dem eingezäunten Auffanglager Rivesaltes, in dem Algerier, die während des Krieges verschiedene Seiten eingenommen haben, auf engstem Raum zusammenkommen. Nach Jahren in einem weiteren Lager geht die Familie in die Basse-Normandie nach Flers.
Schule und Sprache sind Sprungbrett
Die Kluft zwischen den Generationen beginnt sich zu weiten. Ali arbeitet hart, damit die Familie über die Runden kommt. Während die französische Sprache Hamids Eltern fremd bleibt, sie geschweige denn überhaupt Lesen und Schreiben können, wird die Schule zum Sprungbrett für den begabten und Literatur interessierten Jungen, der in der Bildung seine Chance sieht, die ihm jedoch auch von dem Land seiner Vorväter wegführt. Ihn zieht es nach Paris, wo er mit Freunden die Freiheit seiner Jugend genießt sowie Clarisse, seine spätere Frau, kennengelernt. Sie bringt vier Mädchen zur Welt. Eine trägt den Namen Naïma. Nie haben Hamid und seine Kinder Algerien (wieder)gesehen. Bis die Tochter beginnt, Zeugnisse zu sammeln, zu recherchieren, nicht nur mit Blick auf die geplante Ausstellung mit Werken des algerischen Künstlers Lalla, sondern für sich und ihre Familie. Bis auch eine Reise unausweichlich wird.
Themenreich und gesellschaftskritisch
Zeniters Werk ist reich an Themen, über die sich in einem Lesekreis trefflich diskutieren lässt. Es ist eine Geschichte über Verlust und die Frage der Identität, wenn eine Familie die Heimat verliert und in einem anderen Land, das einst erbitterter Gegner im Krieg war, Fuß fassen will. Die Französin, die für diesen, ihren nunmehr fünften Roman mit mehreren Preisen geehrt wurde, legt den Finger in Wunden und weist kritisch auf soziale Ungerechtigkeit, auf Ausgrenzung und Rassismus, auf die seelischen Folgen von Flucht und dem Verlust der Heimat. Nur wenige der algerischen Migranten schaffen den Aufstieg aus den Banlieues. Die Terror-Anschläge der jüngeren Vergangenheit in Paris, wie jenen auf die Redaktion der Satire-Zeitung „Charlie Hebdo“, lassen Wut und Hass auf die muslimischen Mitbürger hochkochen.
„Die Familie, die vom Zyklus der Jahreszeiten zusammengehalten wurde, bricht auseinander: Der Krieg dringt in sie ein wie die Pflugschar in die Erdscholle, und sie zerkrümelt in ein vielfältiges Lebewohl.“ (Seite 166)
Die Autorin, 1986 geboren, hat sich nicht nur intensiv mit dem Thema beschäftigt; anzumerken ist dies an den detailreichen Schilderungen der algerischen Schauplätze und der Einbindung von historischen Ereignissen, Dokumenten sowie Zitaten. Zeniters Großeltern waren wie die Protagonisten Angehörige der Gruppe der Kabylen und selbst „Harki“, die während des Unabhängigkeitskrieges im Dienst der französischen Kolonialmacht standen. Der Titel des Romans verweist dabei auf das sehr bekannte Gedicht „One Art“ der amerikanischen Dichterin Elisabeth Bishop, das im Buch auch zu finden ist und in der es unter anderem in der ersten Zeile heißt: „Die Kunst zu verlieren ist nicht schwer zu meistern“.
„Es gibt keine Familie, die nicht Schauplatz eines Zivilisationskonfliktes ist.“ (Pierre Bourdieu „Algérie 60“)
Wer diesen Roman liest, hält ein großes Stück Literatur in der Hand: Eindrucksvoll und ergreifend mit wie viel Menschlichkeit und Herz für die Helden Zeniter es zugleich gelingt, Orte und Szenerien bildhaft und atmosphärisch zu beschreiben, Worte zu finden für die zwiespältigen Gefühle und Gedanken der Protagonisten. „Die Kunst zu verlieren“ gibt all jenen eine Stimme, die zwei verschiedene Länder als geografischen Lebensraum und zwei unterschiedliche Kulturen in ihrer Seele tragen und dies als Bereicherung oder als Wunde anzusehen.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „literaturreich“ und auf „letteratura“.
Alice Zeniter: „Die Kunst zu verlieren“, erschienen im Berlin Verlag in der Übersetzung aus dem Französischen von Hainer Kober; 560 Seiten, 25 Euro
Foto: pixabay
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