Claudia Schumacher – „Liebe ist gewaltig“

„Erst wenn das Opfer vollkommen wehrlos ist, beißt die Spinne zu.“

Mauern verbergen vieles. Die einen sind aus Stein, die anderen unsichtbar – aus Lügen, Schweigen und Verdrängung errichtet. Sowohl von Tätern als auch deren Opfern, wie das eindrückliche Debüt „Liebe ist gewaltig“ von Claudia Schumacher zeigt, in dem sie von einer Vorzeige-Familie erzählt, die sich nach dem ersten Blick und bei näherem Hinsehen als Vorstufe der Hölle erweist und in der sich seelische Abgründe offenbaren.

Das Leben eine Qual

Wir treffen das erste Mal auf Juli in einer Reha-Einrichtung. Weshalb sie dort Patientin ist, ahnt man schnell. Von Suizid und von Narben an den Handgelenken ist die Rede. Juli ist 17, könnte mitten im Leben stehen, es genießen. Sie ist superklug und war einst talentierte Eiskunstläuferin. Doch ihr Leben ist ihr eine Qual. Weil in ihrer Familie nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Ihr graut es vor ihrem Vater, der nach außen den netten Rechtsanwalt gibt, aber in der geschützten Kulisse des überdimensionalen Hauses in einem Stuttgarter Vorort Frau und Kinder prügelt und demütigt, ihr graut es vor ihrer Mutter, die Opfer und zugleich Täter ist, weil sie ihre Kinder nicht beschützen und dem ganzen Horror ein Ende machen will. Verletzungen werden vom Bruder des Vaters, einem Arzt, kaschiert. Juli wird nicht nur selbst von ihrem Vater zugerichtet und „auf Spur“ gebracht, sie erlebt auch die Brutalität gegenüber ihrer Mutter und ihren Geschwistern, die frühzeitig versuchen, aus dem Haus zu fliehen. Bis auch Juli als letztes der Kinder ihren Eltern den Rücken kehrt. Doch die Fesseln sind und währen lang, das Lügenkonstrukt hält, Grundlage für eine robuste und stabile Scheinwelt, die so schnell nicht zum Einsturz gebracht werden kann.

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Die Jahre vergehen. Aus Juli wird Jules, aus dem Mädchen eine junge Frau, die Mathematik studiert, später auch lehrt und viel Geld als erfolgreiche Gamerin verdient. Ihre Beziehungen, ob mit Mann oder Frau, sind meist von kurzer Dauer und nach einer Zeit der berauschten Harmonie letztlich voller Konflikte, belastet von ihrem unausgesprochenen Trauma und der verzweifelten Suche nach dem eigenen Ich, selbst die intensive Bindung zu der charismatischen Engländerin Sanyo geht letztlich in die Brüche. Mit 26 Jahren lernt sie an der Bar Thilo kennen, sie zieht zu ihm in die Schweiz. Das Leben der „Julia“, wie sie sich nun nennt, scheint einen sicheren Weg einzuschlagen…

Dieses Wort „scheinen“ ist ein teuflisches. Claudia Schumacher lässt dies auch den Leser spüren, der in dieser Geschichte voller Leid und verzweifelter Hoffnung Erschütterung für Erschütterung miterlebt. Szenen der vermeintlichen Harmonie und Sicherheit sind trügerisch. Juli/Jules/Julia wird immer das weggenommen, das ihr Halt und Zuversicht gibt: die süße Maus, die sie gefunden und mit sehr viel Liebe aufgepäppelt hat, Menschen, die ihr nahe stehen, letztlich ihre Würde.

„Wie jeder sieht sie nur die Spitze des Eisbergs, nicht das Dunkle, Tonnenschwere, das mich runterzieht. Mit den Jahren wird es nicht kleiner, es gewinnt zunehmend Gewalt über mich, macht mich seltsamer. Ich bin pervers, schrieb ich mit zwölf ins Tagebuch: Wenn das nicht aufhört, dann muss ich mich…“

Dass dieses persönliche Drama den Leser zu schaffen macht, liegt an der Perspektive. Die Heldin ist zugleich Ich-Erzählerin, die von ihren Erlebnissen und Erfahrungen berichtet – in all ihrer unerbittlichen und erdrückenden Direktheit. Ihr Ton ist dadurch oft auch ruppig und geradeaus. Nichts gibt es in dieser Welt aus Gewalt und Schmerz zu beschönigen. Blut ist Blut, Lügen bleiben Lügen, der Vater gefällt sich auch weiterhin als respektloses, prügelndes und intrigantes Arschloch, das Frau und Kinder für schwachsinnig erklärt.

Brunos berühender Brief

Mit dem letzten von drei großen Abschnitten bricht die Autorin diese doch sehr von Emotionen getragene Perspektive, die den Leser sehr nah an die Geschichte und ihre Protagonisten gezogen hat, allerdings auf. Die Zeit mit Thilo wird durch einen auktorialen Erzähler zwar ebenfalls drastisch, allerdings etwas kühl und nüchtern geschildert, was irritiert – wie auch die manchmal unmotivierten Zeitsprünge, manches bleibt da unerzählt liegen, manche interessante Figur wird an den Rand geschoben. Rundum versöhnt wird man nach einer Achterbahn-Fahrt der Gefühle am Schluss allerdings wiederum mit einem berührenden Brief von Julis Bruder Bruno, zu dem sie eine wechselvolle, aber sehr enge Bindung hat und der im Gegensatz zu den anderen Geschwistern nicht vergessen kann und will, sowie mit dem Epilog des Romans.

Claudia Schumacher, 1986 in Tübingen geboren und einige Jahre als Journalistin in Zürich für die „NZZ am Sonntag“ tätig, legt mit „Liebe ist gewaltig“ ein erschütterndes Debüt vor, das auf die Problematik Häusliche Gewalt und vor allem ihre drastischen Folgen hinweist. Bereits vor der Pandemie belegen Zahlen des Statistischen Bundesamts eine Zunahme von Fällen der Kindswohlgefährdung, die viele Gesichter hat, die sich als körperliche Gewalt, aber auch als psychische Misshandlung zeigen kann. Dass sich entsetzliche Erlebnisse wie diese tief in Körper und Seele des Opfers einschreiben, ist eine der traurigsten Erfahrungen, die dieses Buch vermittelt. Ein Roman, der im Gedächtnis bleibt und auch durch sein wunderbares Cover – das Bild zeigt einen Ausschnitt des Gemäldes „Baywatch“ der österreichischen Malerin und Bühnenbildnerin Xenia Hausner – in den Bann ziehen kann.

Eine weitere Besprechung: auf dem Blog „Feiner reiner Buchstoff“.


Claudia Schumacher: „Liebe ist gewaltig“, erschienen im dtv Verlag; 376 Seiten, 22 Euro

Foto von Charl Folscher auf Unsplash

3 Kommentare zu „Claudia Schumacher – „Liebe ist gewaltig“

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