Anna Bolavá – Der Duft der Dunkelheit

„Wenn das Kraut einer Art, die man sammelt, größer ist als man selbst, ist das ein bedeutendes Ereignis.“

Kamille und Königskerze, Hirtentäschel und Holunder, Schafgarbe und Schöllkraut: Wer den Debütroman der tschechischen Autorin Anna Bolavá liest, wird wie die Heldin und Ich-Erzählerin Anna zu einem Sammler oder einer Sammlerin. Man sammelt unweigerlich bei der Lektüre von „Der Duft der Dunkelheit“ Namen von Kräutern in einer Liste. Alle Heilpflanzen, die in diesem Buch genannt werden, gibt es tatsächlich, weist die Schriftstellerin zu Beginn ihres Werkes hin, für das sie 2016 mit dem wichtigsten Literaturpreis ihres Landes ausgezeichnet wurde. 

sammeln wie einst die Großmutter

Es ist Juni, bald beginnen die Sommerferien, eine Zeit der Wärme, der kurzen Nächte, der Tage und Wochen, in denen die Flora überall sprießt und blüht. Jeden Dienstag besucht Anna die Ankaufstelle, in der sie ihre getrockneten Kräuter gegen ein paar Kronen abgibt. Die junge Frau wohnt auf einem Hof in Südböhmen. Ihr Geld verdient sie sich darüber hinaus als Übersetzerin, wobei sie ihre Arbeit in den Sommerwochen zurückgestellt, um wie einst ihre Großmutter Tag für Tag Heilpflanzen zu suchen. Anna füllt Beutel und den Karren, den sie an ihrem Rad befestigt hat. Nach der erfolgreichen Ernte geht sie auf den Dachboden, wo die Kräuter trocknen können.

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Doch bereits in den ersten Kapiteln, deren Titel meist auf eine Heilpflanze verweisen oder den regelmäßigen Besuch der Ankaufstelle ankündigen, wird schnell klar, dass dies alles andere als eine sommerliche Idylle ist, die Bolavá anhand der Geschichte ihrer Heldin erzählt. Nicht nur lebt Anna getrennt von ihrem Mann, der darüber hinaus nur noch einen Arm hat, ihr körperlicher wie seelischer Zustand ist schlecht. Ihre Haare fallen aus, die Beine sind blau, eine Verletzung an ihrer Hand heilt nicht ab. Während ihre Cousine Miluska sie mit Medikamenten versorgt, gibt ihr Marcela, Cousine Nummer zwei, aus der Schulkantine, in der sie arbeitet, Essen, damit sie an Gewicht gewinnt. Unter welcher Krankheit Anna leidet, bleibt allerdings unklar. Einzig und allein das Sammeln der Kräuter scheint ihr Kraft zu geben, obwohl dieses zugleich einige Anstrengungen erfordert und der Heldin vieles abverlangt, sie nahezu an ihre Grenzen bringt. Dass sie in der Kleinstadt als eigenbrötlerische Außenseiterin angesehen wird und ihre Familie zerrissen ist, macht ihr Leben nicht einfacher. Sie scheint aus der Zeit gefallen zu sein, wenn sie mit dem Rad durch die Gegend streift, über ihr Sammeln akribisch Buch führt.

„Es macht mich traurig, was ich alles nicht sammeln kann, und was alles existiert. Wie die Welt ist und ich darin und auch wieder nicht.“

In einem suggestiven, kleinteiligen Bewusstseinsstrom schildert die zerbrechlich wirkende Heldin nicht nur von der überaus reichen Natur und beschreibt eindrücklich Mikro-Landschaften, die sie während des Sammelns aufsucht. Sie erinnert sich an ihre Kindheit und die vergangenen Jahre, berichtet von ihren verschiedenen Begegnungen, darunter Besuche in der Übersetzungsagentur in Prag und am Sterbebett ihres ungeliebten Schwiegervaters, die nahezu kafkaeske, ja gar unheimliche Züge tragen. Es ist nicht die einzige Szene, die beim Leser wohl Fragen aufwirft. Denn der Blick der Heldin bleibt ein rundweg subjektiver. Nicht alles wird geklärt, entstehen weiße Flecken, werden keine fassbaren Fäden zwischen den einzelnen Charakteren gezogen, worin auch das Manko dieses Buches liegt. Eine andere Sicht auf die Geschehnisse, der Blick einer anderen Figur, hätte wohl zur Erhellung beigetragen.

Klare, präzise Sprache

Und obwohl der Leser sich vielleicht etwas mehr „Licht“, Plastizität und Kompaktheit gewünscht hätte und die Geschehnisse rund um das Kräutersammeln eine gewisse Redundanz in sich tragen, entwickelt der Roman einen Sog. Es mag an der untergründigen Spannung liegen, vielleicht auch an dem Thema Natur und Naturheilkunde, an dem wieder mehr Interesse besteht, wie auch das Genre des Nature Writing seit einigen Jahren wieder auflebt. Auch durch die Sprache, die klar und präzise ist, kaum lange, ausufernde Sätze aufweist, gelingt es der Autorin, den Leser an diese oft auch melancholische Geschichte zu binden.

Anna Bolavá, 1981 in Südböhmen geboren, studierte Bohemistik in Prag und war eine Zeit für das Institut für tschechische Sprache der Akademie der Wissenschaften tätig. 2013 erschien ihr erster Lyrik-Band „Černý rok“ („Das schwarze Jahr“). Ihr Debüt-Roman „Der Duft der Dunkelheit“ wurde 2015 veröffentlicht und ist Teil einer Trilogie, zu denen zwei weitere, noch nichts in Deutsche übertragenen Bände gehören. Für ihren Erstling wurde die tschechische Autorin mit dem wichtigsten tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera in der Kategorie Prosa geehrt.

Mit ihrem Debüt hat Bolavá einen eigenwilligen Roman geschaffen, der von Vergänglichkeit und Tod, aber auch von der Kraft der Natur und Familientraditionen erzählt, der auf eine besondere Weise intensive Naturbeschreibungen mit psychologischen Schilderungen und einer dunklen Spannung verbindet. Es wäre begrüßenswert, wenn die beiden Folgebände der Trilogie ins Deutsche übersetzt werden. Anerkennung auch für den Mitteldeutschen Verlag, der den Roman zwar nicht als gebundene Ausgabe, allerdings als reizvoll gestaltetes Taschenbuch herausgegeben hat.


Anna Bolavá: „Der Duft der Dunkelheit“, erschienen im Mitteldeutschen Verlag, in der Übersetzung aus dem Tschechischen von Katharina Hinderer; 296 Seiten, 24 Euro

Foto von Rasa Kasparaviciene von Unsplash

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