Lina Nordquist – „Mein Herz ist eine Krähe“

„Niemand hat uns ein Leben ohne Trauer versprochen.“

Unni ist auf der Flucht. Mit ihrem kleinen Sohn Roar und Armod, ihrem Mann, schlägt sie sich von Norwegen nach Schweden durch. In den dichten Wäldern Hälsinglands finden sie ein bescheidenes Zuhause: die Hütte „Frieden“. Doch der Name trügt. Denn das Paar kämpft in der rauen Gegend im Norden des Landes um ihr Überleben. Die schwedische Wissenschaftlerin und Politikerin Lina Nordquist hat mit „Mein Herz ist eine Krähe“ einen fesselnden und dramatischen, aber stellenweise auch bedenklichen Roman über eine Familie, dessen Leben von roher Gewalt und einem dunklen Geheimnis geprägt wird, geschrieben.

Eine Familie kämpft ums überleben

Es ist das Jahr 1898. Viel haben Unni, ihr Sohn Roar und ihr Mann Armod nicht, als sie sich eine neue, vor allem sichere Existenz aufbauen wollen. Sie haben nur sich und eben „Frieden“, die Kate im Wald, die leer ist, nachdem die vorherigen Bewohner Schweden in Richtung Amerika verlassen haben. Die kleine Familie pachtet die Hütte vom Waldbauern Nilsson. Das Glück ist nur von kurzer Dauer. Ihre kargen Vorräte gehen schnell zu Ende, der Winter zeigt sich unerbittlich streng. Die Familie leidet Hunger. Keiner aus der Siedlung ist bereit, den Neuankömmlingen etwas zu geben. Nicht einmal, als Unni mit der kleinen Tone Amalie ein zweites Kind zur Welt bringt und sie ihr nicht genug Milch geben kann.

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Den Winter überstehen sie nur knapp. Unnis reiches Wissen um die Kraft der Heilkräuter, das ihr die Wehmutter Brita vermittelt hatte, wird ihr und ihrer Familie so manches Mal zugute kommen. Doch nach einem weiteren Aufatmen und einiger Zeit des Glücks folgt die nächste Tragödie: Armod kommt ums Leben. Zurückbleiben eine junge Frau und ihre beiden kleinen Kinder. Und Unni, erneut schwanger, muss hart arbeiten, um die Raten für die Hütte abzutragen, bis die Mutter ins Visier des Waldbauern gerät – mit entsetzlichen Konsequenzen. Was folgt, ist dunkle grausame Gewalt, der sowohl Unni als auch ihre drei Kinder vollkommen schutzlos ausgesetzt sind. Immer und immer wieder. Und die wohl nicht wenige LeserInnen nicht nur für kurze Zeit bestürzen wird. In dieser schier endlosen Aneinanderreihung von Gewaltszenen liegt das große Problem dieses Romans.

„Wir kommen und wir gehen, wir alle, Bäume wie Menschen.“

Ich spürte zunehmend ein Unwohlsein und überlegte, inwieweit der Leser/die Leserin unfreiwillig in die unangenehme Rolle eines Voyeurs/einer Voyeurin gezwungen wird und ob diese ausufernden und oft auch detailreichen Gewaltbeschreibungen wirklich notwendig sind. Szenen können zwar bei Nichtgefallen überblättert werden, aber das sollte und kann nicht der Anspruch eines Autors, einer Autorin sein, zumal eine Handlung sich auf Details aufbaut und die Gewalt sich in der zweiten Geschichte, die Nordquist erzählt, fortsetzt, wenngleich in einer eher subtileren Form.

Zeitsprung: Roar ist mittlerweile ein alter Mann. Er lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und Schwiegertochter Kåra weiter in der Hütte „Frieden“, die mit den Jahren ausgebaut wurde, damit zwei beziehungsweise später drei Generationen unter einem Dach wohnen können. Doch von Harmonie ist das Zusammenleben weit entfernt. In der Ehe zwischen Dag  und Kåra kriselt es zunehmend, und die Beziehung Kåras zu ihrer Schwiegermutter ist kühl als herzlich. Beide Handlungsfäden und damit die Stimmen von Unni und Kåra wechseln sich im Verlauf des Romans ab. Zwei Frauen, die recht verschieden sind. Die eine kämpft erbittert um das Überleben ihrer Familie, baut sich immer wieder auf an Armods Worten der Hoffnung, die andere wird von einer inneren Unsicherheit, Unruhe und Angstzuständen gequält, die sie mit unzähligen Tabletten unterdrückt.

Von dunklen Geheimnissen

Wie Unni und Armod Fremde im Dorf waren, wirkt Kåra wie ein Fremdkörper in der Familie, die nicht nur Gewalterfahrungen erlebt hatte, sondern auch ein dunkles Geheimnis verbirgt, das, am Ende erzählt, indes ähnlich schockierend ist wie die Schuld, die Kåra gleich mehrfach und ganz bewusst auf sich nimmt. Denn sie greift in das Leben der Familie ein – mit drastischen Folgen.

Mit „Mein Herz ist eine Krähe“ hat die Wissenschaftlerin und Politikerin Lina Nordquist ihr  Debüt geschrieben. Und darüber hinaus ein sehr erfolgreiches: Ihr Roman wurde im vergangenen Jahr in Schweden zum Buch des Jahres gekürt. Nordquist arbeitet neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit als außerordentliche Professorin für Physiologie und als Diabetesforscherin. Seit 2018 gehört sie dem schwedischen Parlament, dem Riksdag, an.

Was ihren Erstling indes dann doch so bemerkenswert macht, ist die Sprache mit ihrer Ausdruckskraft und einem ganz eigenen poetischen Rhythmus. Wie Nordquist ihre beiden Heldinnen Einblicke in ihr Innenleben und ihren beschwerlichen Alltag, ihre ganz eigene Form des Überlebens geben lässt, wie die Natur und das Verhältnis zwischen Mensch und Natur beschrieben wird, ist eindrücklich und entwickelt einen Sog. Doch mit dem Fokus auf die zwei Frauen rückt eine interessante Figur in den Hintergrund: der kleine und später erwachsene Roar, dessen Sicht auf die Ereignissen wohl die spannendere gewesen wäre.

Weitere Besprechungen sind zu lesen auf den Blogs „Mit Büchern um die Welt“ und „Bücheratlas“ .


Lina Nordquist: „Mein Herz ist eine Krähe“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat; 464 Seiten, 25 Euro

Foto von Mikaela Stenström auf Unsplash

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