Im Duett #6: Percival Everett „James“ & „Erschütterung“

„Hat nich jeder Mensch das Recht, frei zu sein?“, fragte Huck.

1884/85 erschien ein Buch, das wohl in sehr vielen Regalen steht, oft verfilmt wurde und den späteren Ruhm des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain (1835-1910) begründet hat: „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Dessen Landsmann und Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway stellte das Werk gar an den Anfang der gesamten neueren amerikanischen Literatur. Percival Everett, der mit seinem Roman „Erschütterung“ hierzulande einem breiteren Publikum bekannt wurde, greift die weltbekannte Geschichte nun auf, erzählt deren Geschehnisse allerdings anders: aus der Sicht des Sklaven Jim. Es wird Zeit für einen Autor „im Doppelpack“, denn beide Bücher des US-amerikanischen Autors habe ich nacheinander – quasi in einem Rutsch -, aber vor allem mit sehr viel Begeisterung gelesen.

Flucht vor dem Verkauf

Zu Twains Klassiker ist schon viel geschrieben worden, die Story bekannt, an die sich Everett weitestgehend hält. Als Jim erfährt, dass er von seiner Besitzerin Mrs. Watson an einen Mann in New Orleans verkauft werden soll, lässt er seine Frau Sadie und seine Tochter Lizzie in Hannibal (Missouri) – dort wo Mark Twain im Übrigen seine Kindheit und Jugend verbracht hatte – zurück und flieht. Allerdings immer mit dem Ziel vor Augen, eines Tages sich und seine Familie aus den Fängen der Sklaverei zu befreien. Der Nachbarsjunge Huckleberry Finn, dem Jim recht nahe steht, begleitet ihn.

1720880559929_neu2

Eine abenteuerliche Odyssee auf und am Mississippi nimmt ihren Lauf. Beide begegnen den unterschiedlichsten Menschen, mitunter werden sie durch unvorhergesehene Ereignisse voneinander getrennt. Sie ernähren sich von Katzenwels, Kaninchen und Beeren. Stets besteht die Gefahr, geschnappt oder gar getötet zu werden, denn auf Jim ist ein nicht ganz unbeträchtliches Kopfgeld ausgesetzt. Er wird von einer Gesangsgruppe aufgekauft, wird von einer Klapperschlange gebissen, er lernt zwei Hochstapler, die sich als Herzog und König ausgeben, kennen und muss auf einer Sägemühle schuften.

Ein Bleistift als Trostgeber

Eine grundlegende Veränderung erfährt indes die weltberühmte Vorlage durch Everetts Geniestreich. Jim wird zum Erzähler, der das Geschehen aus seiner Sicht schildert. Wie Twain in seinem Roman die Sprache eines Jungen kenntlich macht, so lässt Everett Jim in der Sprache der Sklaven – großartig übersetzt von Nikolaus Stingl – sprechen, allerdings nur dann, wenn er mit Weißen spricht, um so nicht seine Klugheit und sprachliche Fähigkeiten zu offenbaren und damit die weißen Besitzer und deren Angestellte herauszufordern. Denn Jim kann lesen und schreiben und liebt Bücher. Ein Bleistift, den ein anderer Sklave für ihn stiehlt, tröstet ihn und setzt den Anfang, seine eigene Geschichte niederzuschreiben. Es gibt wundervolle Passagen über die Kraft der Literatur und des Lesens.

„Wir wussten, dass sie, ich, wir alle für immer nackt in der Welt waren.“

„James“ – der Titel wird im Verlauf des Romans erklärt – enthält mehrere Stimmungen, ist mal heiter, mal melancholisch, mal tieftraurig. Es ist ein Buch über Freundschaft, Liebe und Loyalität, aber auch über Rassismus und Hass. Was Sklaverei bedeutet, wird an vielen Stellen deutlich, und mehrfach erklärt Jim Huckleberry, was die Unterschiede zwischen Freiheit und Sklaverei, zwischen Weiß und Schwarz sind. Sklaven haben keine Rechte, kein Eigentum. Sie sind vielmehr selbst eine Ware, die je nach Lust und Laune verkauft oder gekauft werden kann. Gewalt wird in all ihren Formen geschildert: Demütigungen, Schläge und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Sklaven werden erschossen oder erhängt. Jim ist Opfer und Zeuge zugleich.

Mehrfach preisgekrönt

Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, verfasste bereits während seines Studiums sein Debüt „Suder“, das 1983 veröffentlicht wurde. In Folge erschienen Romane, Erzählungen und Lyrik. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem mit dem PEN Center USA Award for Fiction, dem Academy Award in Literature der American Academy of Arts and Letters, dem Windham Campbell Prize und dem PEN/Jean Stein Book Award. Seit 2007 hält Everett an der University of Southern California eine Professur für Englisch.

Mit seinem Roman „Telephone“, der 2022 unter dem Titel „Erschütterung“ in deutscher Übersetzung erschien, war er 2021 Finalist für den renommierten Pulitzer-Preis . Im Mittelpunkt steht der etwas kauzige Paläontologe Zach Wells. Sein Alltag als Wissenschaftler, Mann und Vater wird von einem Tag auf den nächsten aus den Angeln gehoben, als er erfährt, dass seine Tochter Sarah unheilbar am Batten-Syndrom erkrankt ist. Sie verliert die Sehkraft und leidet an Anfällen, bis sich schließlich eine unumkehrbare Demenz einstellt.

„Man pflegt Menschen im Angesicht einer tödlichen Krankheit als Kämpfer zu bezeichnen, und vielleicht sind sie das ja, aber ohne Hoffnung bedeutet tödlich tatsächlich tödlich.“

Die schwere Erkrankung ihrer gemeinsamen Tochter bringt indes Zach und seine Frau Meg nicht wieder näher zusammen. Die Beziehung kühlt sich weiter ab, denn Zach sucht nicht nur seinen eigenen Weg, mit dem Schicksalsschlag umzugehen. Er begibt sich auf eine gefährliche Mission, nachdem er in kürzlich gekaufter Kleidung auf merkwürdige Botschaften stößt. Wie ein Detektiv versucht er, die Verfasser der Hilferufe ausfindig zu machen. In einem kleinen Ort in der Wüste New Mexicos macht er eine entsetzliche Entdeckung, die ihn allerdings nicht abschreckt, sondern vielmehr herausfordert.

Ein Buch über das Verschwinden

Beide Romane Everetts haben einige Gemeinsamkeiten: Sie sind in der Ich-Perspektive geschrieben, und der Ich-Erzähler – beide sind schwarz – schildert mehrfach nicht nur das reale Geschehen, sondern auch seine Träume, die der Handlung einen leicht surrealen Anstrich geben. In beiden Büchern gelingt dem US-Amerikaner meisterhaft der Spagat zwischen Humor und ernster Dramatik. Für die deutsche Ausgabe von „Telephone“ hätte es wohl keinen besseren Titel gegeben: Zach wird erschüttert, seine Familie ebenso – und sicherlich auch der Leser. Wie Everett die enge Bindung zwischen Zach und seiner Tochter und deren allmählichen Verfall beschreibt, ist sehr ergreifend. Nicht minder die in New Mexico angesiedelten Szenen, in denen der Wissenschaftler, der in seinem Beruf und Alltag kaum Gefahren bestehen muss, herausgefordert wird und in vielerlei Hinsicht Grenzen überschreitet.

„Erschütterung“ kann als ein Roman über das Verschwinden gelesen werden, das schlagartig und plötzlich oder eben allmählich und schleichend geschehen kann. Everett hat sich mit diesen beiden Romanen in meine „Lesebiografie“ auf besondere Art eingeschrieben, als ein Autor, den ich nunmehr viel und oft empfehlen werde und wohl nicht mehr aus den Augen lasse.


Percival Everett: „James“, erschienen im Hanser Verlag, 336 Seiten, 26 Euro; „Erschütterung“, erschienen im Hanser Verlag, 228 Seiten, 23 Euro (auch als Büchergilde-Ausgabe erhältlich), beide Romane übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.

Foto von Jp Valery auf Unsplash

4 Kommentare zu „Im Duett #6: Percival Everett „James“ & „Erschütterung“

  1. mit „James“ hat er sich meine Begeisterung geholt, mit „Erschütterung“ dann auch mein Herz erobert. So ein guter Schriftsteller! Ich werde unbedingt noch mehr von ihm lesen. Danke für diesen Beitrag!

    Elvira

    Gefällt 1 Person

  2. Oh wie spannend! Seit „Die Bäume“ wollte ich unbedingt mehr von Percival Everett lesen. Als „James“ rauskam, stellte ich mir aber auch die Frage, ob ich nicht erstmal was von Mark Twain lesen sollte, ob den sozusagen „Konterblick“ der Perspektive von Sklaven richtig zu würdigen und das verdrehte dieses ganzen Systems zu sehen. Ich weiß noch nicht, ob ich das durchziehe.. mal sehen.

    Kennst du „Die Bäume“? Oder welcher Everett wird wohl dein nächster?

    Gefällt 1 Person

    1. Ich denke, „James“ lässt sich auch ohne die originale Vorlage von Twain lesen. „Die Bäume“ habe ich noch nicht gelesen, bisher gibt es ja auch nur drei Bücher von Everett in deutscher Übersetzung: „Erschütterung“, „Die Bäume“ und eben „James“. Viele Grüße

      Like

Hinterlasse eine Antwort zu Miss Booleana Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..