Ivy Pochoda – „Sing mir vom Tod“

„Wir sind nichts als unsere Narben.“

Nicht jede düstere Story muss in der Dunkelheit beginnen. Aber sie kann. Ein Frauengefängnis ist bekanntlich kein Ort der Freude und Harmonie. Hier herrscht das Recht der Stärkeren, der immergleiche Alltag. Gewalt, Drogen und Missbrauch sind an der Tagesordnung. Auch die Aufseher mischen mit oder schauen weg, wenn es brenzlig wird. Wir sind zu Beginn in Arizona – hinter Gittern. Florence „Florida“ Baum und Diosmary „Dios“ Sandoval verbüßen ihre Haft für unterschiedliche Delikte, beide waren einige Zeit Zellengenossinnen.

Literarisches Road-Movie

Als sie beide frühzeitig entlassen werden, heftet sich Dios wie eine Klette an Florida, denn sie hat noch eine Rechnung mit ihr offen. Beide brechen ihre Bewährungsauflagen, eine blutige Tour nach Los Angeles nimmt ihren Lauf. Mal gemeinsam, mal getrennt bringen sie die Meilen gen Westen hinter sich. Ivy Pochodas neuer Roman „Sing mir vom Tod“ ist Thriller und literarisches Road-Movie in einem und enthält eindrückliche Spuren einer Dystopie. Wenn wir die Pandemie nicht hinter uns hätten, könnte man meinen, die Handlung spiele in einer vielleicht nicht gar so fernen, künftigen Zeit.

Die Straßen sind weitestgehend leergefegt. Die riesigen Mals und Motels entlang der Highways sind zu Geisterorten geworden. Gewaltbereite Mobs ziehen umher. Zeltstädte, in denen Obdachlose hausen, breiten sich aus. Die Nationalgarde versucht, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Die Covid-Pandemie sorgt für einen Ausnahmezustand und Ausgangssperren. Zwei Extreme treffen aufeinander. Jene düstere Zeit vor wenigen Jahren und zwei gewaltbereite Frauen, die keine Grenzen kennen. Ob in einem Bus auf dem Weg nach Kalifornien, mit Männern an einem Lagerfeuer oder schließlich in Floridas einstigem ansehnlichem Zuhause im Reichenviertel Hancock Park – beide Frauen hinterlassen eine Spur des Grauens, die eine im Drogenrausch, die andere jedoch ganz gezielt.

„Ein modernes Pompeji. Die in ihren letzten Grinsen erstarrte Stadt vor dem Stillstand der Zeit. Auf dem Sperrholz vor jedem Geschäft ist die Partitur einer vergessenen Kultur verewigt.“

In Los Angeles bleibt das brutale Treiben nicht unentdeckt. Polizistin Lobos, die einst bei der Sitte gearbeitet hat, sich zur Mordkommission und nach Down Town versetzen ließ, sucht mit ihrem Partner Easton nach Florida – und schließlich auch nach Dios. Gewalt ist Lobos nicht unbekannt. Nicht nur in ihrem Beruf als Ermittlerin, sondern auch im Privatleben. Von ihrem Ex-Ehemann wurde sie misshandelt, auch nach der Trennung verfolgt er sie. Nahe einem markanten Graffito im schäbigen Stadtteil Korea-Town kommt es zum Aufeinandertreffen der drei Frauen, zum Showdown ohne Happy End.

Markante Erzählerstimme

Pochodas Thriller ist nicht nur schonungslos und in Teilen furchtbar brutal. Es gibt mehrere Themen, die den Leser, die Leserin wohl beschäftigen werden: die Gewaltbereitschaft von Frauen und die möglichen Ursachen sowie die Zustände in amerikanischen Frauengefängnissen. Und in der Fehde zwischen Florida und Dios geht es auch um die Klassenfrage. Die eine ist Spross einer wohlhabenden Familie, die in das falsche Milieu abdriftete, die andere eine hochbegabte Aufsteigerin, die dank eines Stipendiums studieren konnte und einen Karriere haben können.

„Diese Frauen mit ihrem vorzeitigen Entlassungen mögen fort sein, aber sie sind immer noch hier, wenigstens zum Teil. Sie haben ihre Dämonen hiergelassen – ihre Toten, die sie Nacht für Nacht heimgesucht haben.“

Pochodas Thriller gelang als Neueinsteigerin sogleich der Sprung auf Platz 1 der Krimibestenliste von Deutschlandfunk des Monats Februar. Die US-Amerikanerin, 1977 in Brooklyn geboren, einst erfolgreiche Squash-Spielerin und für ihre Bücher bereits mehrfach ausgezeichnet, studierte klassische griechische, englische und amerikanische Literatur am Harvard College, was ihrem Roman auch anzumerken ist. Sie mischt eine markante Erzählerinnenstimme hinein, die an eine mythologische Seherin erinnert, die mahnt und die Stimmen der Toten, der Opfer, hört. Es ist Kace, die ebenfalls im Gefängnis einsitzt, und als Zellengenossin Floridas die Geschichte der beiden Frauen erzählt.

„Sing mir vom Tod“, im Original mit dem Titel „Sing her Down“ erschienen, ist ein bildgewaltiger, rasanter und vielschichtiger Thriller, geprägt von der intensiv gezeichneten Kulisse. Ein Buch, das man nach der Lektüre nicht einfach so abschließen kann – wie so viele andere Titel dieses Genres.


Ivy Pochoda: „Sing mir vom Tod“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux, herausgegeben von Thomas Wörtche; 328 Seiten, 17 Euro

Foto von Alex Gudino auf Unsplash 

2 Kommentare zu „Ivy Pochoda – „Sing mir vom Tod“

  1. Die Krimibestenliste des Deutschlandfunks verfolge ich auch regelmäßig und lasse mich da gerne inspirieren. Von der Februar-Liste habe ich bisher Wolf Haas‘ „Wackelkontakt“ und das englische Original von Sebastian Barry („Old God‘s Time“) gelesen. Danke für die spannende und interessante Besprechung und herzliche Sonntagabendgrüße!

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