Robert Macfarlane – „Sind Flüsse Lebewesen?“

„Fluss schichtet sich auf Fluss. Unten die fließende Erde, oben der fließende Himmel.“

Er hat alte Wege beschritten, Berge erklommen und die Welt unter der Erde erkundet, diesmal geht es mit Robert Macfarlane an und auf das Wasser. Der britische Meister des Nature Writing lädt mit seinem neuesten Werk „Sind Flüsse Lebewesen?“ zu einer Reise auf vier Kontinente und in eine mögliche Zukunft ein. Kann dieser wertvolle Lebensraum per Gesetz und dank einem speziellen Naturvertrag auf besondere Weise geschützt werden?

Zerstörung der Umwelt durch den Menschen

Alles beginnt vor der „Haustür“ des Briten. Wir lernen die Quellen kennen, die in seiner Heimat ein Kreidebachnetz speisen. Wenige Seiten später stehen wir in einem Hochlager im Nebelwald des Los Credos in Ecuador. Station eins einer nahezu weltumspannenden Reise zu Flüssen, die auf unterschiedliche Art und Weise bedroht sind und stellvertretend für die Zerstörung der Umwelt durch den Menschen stehen. Im Fall des Rios Los Credos ist es der Bergbau. Das Leben in den Flüssen Adyar und Cooum nahe der indischen Wasserstadt Chennai stirbt durch giftige Abwässer. Dramatische Folgen auf den Magpie River in der kanadischen Provinz Ontario hat hingegen der Bau von Staudämmen.

Alle drei Regionen hat er besucht und die jeweilige Landstriche bereist. An der Seite stets Menschen, die sich für den Schutz der Flüsse einsetzen. Wie die Pilzexpertin Giuliana, der Einsiedler DeCoux, der Naturkundler und Wasseraktivist Yuvan, der Geograf Wayne und Vertreter des indigenen Volkes wie die Innu-Dichterin Rita Mestokosho, die am Ufer des kanadischen Magpie Rivers lebt. Einige seiner charismatischen Begleiter verbindet indes nicht nur die Liebe zur Natur und zu den Flüssen: Einige haben dramatische, gar traumatische Erfahrungen durchlitten, die sie sensibel gemacht haben. Der Einsatz für die Umwelt gibt ihnen Halt und Kraft. Mehrfach kehrt Macfarlane in seine Heimat zurück, wo es um die Flüsse indes ähnlich gestellt ist unter anderem wegen des Klimawandels oder durch toxische Abwässer von Hühnerfarmen.

Bewegung für die Rechte der Natur

Durch das Buch führt thematisch ein roter Faden: Macfarlane plädiert nicht nur dafür, Flüsse nicht nur als reine Ressource anzusehen, sondern als eigenständiges Wesen – und als juristische Person. Er schildert die Bemühungen der Bewegung für die Rechte der Natur. Zwischen 2006 und 2021 gab es laut dem Max Planck Institut weltweit über 400 Initiativen, die sich auf die Rechte der Natur berufen haben. Vorreiter-Länder sind neben Ecuador unter anderem Neuseeland und Indien. Neben der Rolle als Wasserspender geben Flüsse Lebensraum für zahlreiche Arten. Beispielsweise zählt der Nebenwald, durch den der Rios Los Cedros fließt, zu den Hotspots in Sachen Biodiversität weltweit.

„Jedenfalls hat der Fluss, auf den ich mich so lange gefreut habe, bereits meine Wahrnehmung eingenommen, meinen Fokus, mein Denken und durchkreuzt die engen Grenzen der Sprache.“

Macfarlane ist sowohl Erklärer als auch Berichterstatter. Sein Buch trägt essayhafte, aber auch reportagehafte Züge und lebt sowohl von den zahlreichen Lebensgeschichten als auch von eindrücklichen Landschaftsbeschreibungen. Er beweist nicht nur gute Sinne, sondern auch eine völlige Hingabe und ein großes Herz für alles Lebendige – ob Mensch, Tier oder Pflanze, wobei ihn die körperlich anstrengenden, teils auch gefährlichen Touren an die Grenzen seiner Sprache und seiner Überzeugungen gebracht haben und darüber hinaus, wie er in seiner umfangreichen Danksagung betont.

Der Anhang samt Glossar und Literaturverzeichnis ist lang. Auch im Text selbst finden sich mehrfach Verweise auf weitergehende Lektüre, so Klassiker wie Vergils „Aeneis“ und das Gilgamesch-Epos, die Werke der US-amerikanischen Schriftstellerin Ursula K. Le Guin (1929-2018) und der Wissenschaftlerin Robin Wall Kimmerer oder die Schriften des Ökologen und Historikers Thomas Berry (1914-2009). Wie Macfarlane das Sichtbare und seine Gedanken sowie Gefühle in Worte fasst, ist beispiellos, exakt, bildhaft und zugleich poetisch; ausgezeichnet ins Deutsche übertragen von Frank Sievers und Andreas Jandl.

„Wenn ich sage, Flüsse sind Lebewesen, personifiziere ich sie nicht, sondern erweitere und vertiefe die Kategorie ,Leben‘, womit ich wiederum – wie George Eliot so treffend meinte – das innere Reich, in dem wir uns bewegen, vergrößere.“

Macfarlane, 1976 in Nottinghamshire geboren, lehrt Literaturwissenschaft in Cambridge, ist Essayist und Kritiker. Er gilt als wichtigster britischer Autor des Nature Writing. Zu seinen bekanntesten Werken zählen „Karte der Wildnis“ und „Alte Wege“. Sein Band „Die verlorenen Wörter“ wurde mit dem „BAMB Beautiful Book Award“ 2017 sowie als „Hay Festival Book of the Year“ und als „The Sunday Times Top Ten Bestseller“ ausgezeichnet. Für „Im Unterland“ erhielt er den NDR Sachbuchpreis. Bereits 2011 wurde Macfarlane zum Mitglied der Royal Society of Literature ernannt.

„Sind Flüsse Lebewesen?“ ist ein faszinierendes und weises Buch, das einen mitreißt, durchrüttelt, berührt, einen anderen Blick schult und so vieles lehrt, weil es Wissen und persönliche Erfahrungen mit Emotionen verbindet. Ein intensives Plädoyer für die Natur, das hoffentlich oft und viel gelesen wird; ein meisterhaftes und unvergessliches Buch für Generationen.


Robert Macfarlane: „Sind Flüsse Lebewesen?“, erschienen im Ullstein Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Frank Sievers und Andreas Jandl; 416 Seiten, 29,99 Euro

Foto von Phyllis Poon auf Unsplash

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