„Trauerfeiern und Bestattungen hingegen waren oft ein stilles Fest der Wahrhaftigkeit.“
Dieses Museum kann kein Ort sein, kein Haus mit Wänden und einem Dach, mit Fenstern und Türen, mit einer Anschrift und womöglich einem Telefonanschluss. Dieses Museum versammelt Lebensgeschichten und Seelen, einsame Seelen, junge wie alte, die nach Nähe suchen, nach Bindungen, und seien sie noch so erstaunlich. In seinem neuen Erzählband „Museum der Einsamkeit“ versammelt Ralf Rothmann Kurzgeschichten voller Melancholie und Erschütterungen.
Ein Genre mit Stiefkind-Status
In Deutschland hat die Kurzgeschichte, die kleine Schwester des großen Romans, einen gewissen Stiefkind-Status und es leider recht schwer beim hiesigen Lesepublikum, während sie in Übersee als literarisches Genre beliebt und angesehen ist. Unterschätzt zu werden, gibt indes die Chance, zu überraschen. In schöner Regelmäßigkeit hat Rothmann einen Erzählband veröffentlicht, „Museum der Einsamkeit“ folgt nun bereits in kurzem Abstand auf den 2022 erschienenen Band „Hotel der Schlaflosen“. Häufig zitiert sind nun seine Worte: „Jede wahre, jede leuchtende Kurzgeschichte hat einen romanlangen Schatten.“ Es wäre ein schönes und auch treffendes Schlusswort für diese Besprechung, aber diesem wundervollen Buch nicht angemessen und gerecht – und in gewisser Weise auch geklaut, es sollten schon etwas mehr Wörter und Sätze sein, um auch diesem Genre etwas mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Zugegeben: Erzählungen habe ich vor Jahren noch links liegen gelassen. Statt eines kurzen Sprints wollte ich die erzählerische Mammuttour. Bis ich mehr und mehr Kurzgeschichten las, ihren erzählerischen Reiz für mich entdeckte. Auf 20 bis 30 Seiten oder etwas mehr erschafft Rothmann in den insgesamt neun Erzählungen ganze Lebensgeschichten, die das Gestern und Heute verbinden, harte Realitäten vor Augen führen und nie den Leser, die Leserin in einen Wohlfühlmodus versetzen. „Engel auf Krücken“ erzählt vom Hilfsarbeiter Willi, den die harte Arbeit körperlich zugesetzt hat. Er muss die ihm bekannte Baustelle verlassen, ein jüngerer Kollege nimmt seine Stelle ein. Fortan arbeitet er in einem Gefängnis. In seiner Not und Einsamkeit kurz vor Weihnachten wird er in die Arme seiner ehemaligen Geliebte Elfriede getrieben.
„Schimmel in der Orgel“ erzählt vom Künstler Ben, dem seit der Schulzeit Gewissensbisse plagen, weil er einst einen Mitschüler geschlagen hat. Jahrzehnte danach treffen sich beide wieder, was später ein tragisches Unglück nach sich ziehen wird. In der Geschichte namens „Abschied von Baden-Baden“, in der in einer Passage auch der Titel des Bandes erwähnt wird, geht es um eine alte Frau, die nach dem Tod ihres Mannes gemeinsam mit ihrer Tochter eine Seniorenresidenz an der Ostsee als wohl letztes Domizil im Leben und Ruhesitz in Augenschein nimmt.
„Du glaubst ein Leben lang, das Beste passiert noch, und dann drehst du dich um und siehst: Das war’s schon! Sogar die guten Momente sind immer nur Momente, stimmt’s?“
Wie jede großartige Kurzgeschichte entfaltet sich das Leben der Figuren und ihr Umfeld mit jedem Satz, mit jeder Szene nach und nach, wobei nicht nur die Älteren im Fokus stehen. „Normschrift“ führt auf eine Lehr- und Schulbaustelle und erzählt von einem Maurer-Lehrling, wie Rothmann selbst in jungen Jahren einer war, der von seiner Freundin belogen und betrogen wird. In „Budenzauber“ passt der sechsjährige Tim auf seinen jüngeren Bruder auf, weil die Eltern feiern sind. Der Kleine schreit und weint, nur Marmelade und eine tote Taube können ihn schließlich beruhigen.
Es sind unerwartete Abgründe und Erschütterungen, die nachhallen, für Bestürzung sorgen. Jede Geschichte hat ihre eigene Zeit, mal in den 1960ern, mal in der jüngsten Vergangenheit zeitlich verortet. Jede Geschichte hat ihre besondere Erzählstimme und Figuren, die oft ein eher stilles und einfaches Leben führen, nicht mit dem bekannten Saus und Braus vertraut sind, in den höheren Kreisen verkehren. Und trotzdem verbindet die Texte eine Gemeinsamkeit. Es geht um Einsamkeit, das Aufsichgestelltsein – oft in herausfordernden Situationen.
Dunkelkeit und sehr viel Schmerz
Zwei Texte wühlen indes besonders auf: „Herr Dingens“ erzählt vom Pfarrer Thomsen, der seine sterbenskranke Tochter im Krankenhaus besucht. In „Psalm und Asche“ verbindet Rothmann die Stimme des Leiters des KZ Westerbork in den Niederlanden, der sich nach dem Krieg keiner Schuld bewusst ist, mit dem Schicksal einer jungen Frau, die sich in einem Deportationszug nach Auschwitz befindet und ein kleines Kind einer anderen Frau beschützen will. Eine Erzählung voller Dunkelheit und Schmerz. Und wohl die, die für die heftigste Erschütterung sorgt.
Rothmann, 1953 in Schleswig geboren, ein Schriftsteller mit einem reichen wie vielfältigen Schaffen und mit zahlreichen Preisen geehrt, umschreibt diese kleine Szenen innerhalb einer großen Welt mit einer feingeschliffenen Sprache. Die intensive Nähe zwischen Leser, den Protagonisten und dem Geschehen entsteht durch die Details, die das Sinnliche und noch so kleine Gesten und mimische Andeutungen präzis beschreiben – und nichts verschleiern. Nicht den alternden Körper, die Armut, die Kindesvernachlässigung. Mit „Museum der Einsamkeit“ beweist Rothmann einmal mehr, dass er ein großer Erzähler und ein Virtuose der kleinen Form ist.
Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Schmiertiger“, „Leselust – Schreiblust“ und „Literaturleuchtet“.
Ralf Rothmann: „Museum der Einsamkeit“, erschienen im Suhrkamp Verlag; 268 Seiten, 25 Euro
Foto von Dominic Kurniawan Suryaputra auf Unsplash



Das ist so ein großartiges Buch! Ich war bei einer Lesung im Berlin dabei, da hatte er Herr Dingens gelesen, es kamen nicht nur mir die Tränen. Das ist – ebenso wie sein „Hotel der Schlaflosen“ ein Buch, das man immer wieder lesen kann. dlDeine Rezension wird dem gerecht!
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Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich würde Rothmann auch gern einmal bei einer Lesung erleben. Viele Grüße
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Rothmann ist ein großartiger Schreiber, aber ich fühle mich von seinen Geschichten zu stark in eine Richtung gedrückt – will nicht sagen „manipuliert“. Du beschreibst es mit „Abgründe“ und „Erschütterung“ sehr gut. Und das bei jeder Geschichte.
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