Ingeborg Arvola – „Der Aufbruch“

„Warum sprechen Fischer so sehnsüchtig vom Horizont?“

Das Land ist kalt und karg – und trotzdem Ziel Tausender. Im 19. Jahrhundert zog es unzählige Männer, Frauen, ganze Familien von Finnland nach Nordnorwegen. Schon ihre Ahnen hatten zuvor die selben Pfade genommen – mit dem Wunsch auf ein besseres Leben. Die Norwegerin Ingeborg Arvola erzählt in ihrem preisgekrönten Roman „Der Aufbruch“ ihre Geschichte, die zugleich die ihrer Familie ist.

Auftakt der Eismeer-Trilogie

Der Roman ist Auftakt der sogenannten Eismeer-Trilogie, deren Bände in Norwegen von 2022 bis 2025 erschienen sind. Arvola erhielt für Band eins den renommierten Brageprisen und erfuhr in ihrem Heimatland eine riesige Resonanz von sowohl Lesern als auch Kritikern. Die Romanrechte wurden in zwölf Länder verkauft. Vielleicht liegt es daran, dass Norwegen vor allem auch in der Literatur in den vergangenen Jahren so manches Kapitel seiner Historie aufarbeitet, womöglich liegt es aber auch an der besonderen Heldin.

Brita Caisa ist unverheiratet und Mutter zweier Kinder: Ihre beiden Söhne Aleksi und Heikki sind elf und drei Jahre alt. Ihre geliebte Schwester ist bereits verstorben. Nach einer Liebesbeziehung mit einem verheirateten Mann wird sie von der Kirche verstoßen. Auf Skiern und mit einem Rentierschlitten verlässt sie in einem Tross ihr Heimatdorf. Man schreibt das Jahr 1859. Es ist der Beginn eines jahrelangen nomadischen Lebens, das sie von Ort zu Ort führen wird. Ihr Ziel: die Region Ruija im Norden Norwegens, wo viele Finnen, die Gruppe der sogenannten Kvenen, sich niederlassen, um sich mit dem Fischfang eine Existenz aufzubauen.

Hartes, Entbehrungsreiches Leben

Brita ist nicht nur eine attraktive Frau, die die Blicke der Männer auf sich zieht. Sie verfügt über eine besondere Begabung. Sie heilt Mensch und Tier. Mehrfach wird sie im Verlauf der Handlung um Hilfe gebeten, bei Schwangerschaften, Verletzungen, Infektionen. Drastische Szenen, die in all ihrer Sinnlichkeit und Detailliertheit beschrieben werden. Zudem führt sie Rituale durch, um Mensch oder Häuser zu schützen. Für das „kleine Volk“ werden Gaben hinterlassen.

Arvola beschreibt eine archaische Welt und das entbehrungsreiche und herausfordernde Dasein der damaligen Menschen. Brita lässt ihren jüngsten Sohn auf dem Hof der Familie Opponen zurück, um ans Meer zu kommen und um dort in der Fischverarbeitung, eine harte, körperliche Arbeit, selbst Geld zu verdienen. Ihr ältester Spross wird später auf Fischfang gehen. Immer wieder erinnert sie sich an ihren Heimatort, ihre Eltern, ihre Schwester und den sie vor allem prägenden Großvater. Am Meer wird sie ihrem Bruder begegnen, der ebenfalls ausgewandert ist und der indes weiter ziehen will – nach Amerika.

„Es ist das Blut der Menschen und der Erde, es sind Takt und Strömungen und Zeichen, die sich deuten lassen, denn das Leben lebt, immerzu lebt das Leben im gewaltigen Rauschen des Waldes, in plötzlich aufflatternden Enten, in der durch die Wolken brechenden Sonne, die die Wiese zum Glitzern bringt.“

Zwischen den verschiedenen Volksgruppen, den Norwegern, Samen und Kvenen, herrschen einige Spannungen, wenngleich sie sich auch gegenseitig unterstützen, um den Verhältnissen zu trotzen. Die Gesetze werden von der sogenannten Obrigkeit geschrieben. Brita und ihre große Liebe Mikko werden es am Ende des Romans zu spüren bekommen. Mikko hat seine Frau Gretha für Brita verlassen. Ihre leidenschaftliche Beziehung versuchen sie geheim zu halten, was ihnen indes nicht gelingt. Beider Ruf leidet, beide werden vor Gericht gestellt. Der Leser, die Leserin begleitet Brita, aus deren Sicht die Geschehnisse erzählt werden, drei Jahre ihres Lebens.

Namen und Lieder in Finnischer Sprache

An die damaligen Ereignisse, die wohl nur wenigen bekannt sind, und die Kultur der finnischen Einwanderer erinnern im Roman eine Reihe finnischer Namen und Lieder, die zitiert werden. Bereits im 16. Jahrhundert erreichten die ersten Nordnorwegen rund um die heutigen Provinzen Troms und Finnmark. Die meisten kamen im 18. und im 19. Jahrhundert, vor allem in Krisenzeiten wie Hungersnöten. Das Kupferwerk in Alta und das wachsende Fischaufkommen an der Küste, die im Winter dank des Golfstroms eisfrei blieb, versprachen den Menschen ein besseres und sicheres Einkommen; einen Neuanfang fern ihrer Heimat.

Wie die Volksgruppe der Samen waren die Kvenen später indes staatlicher Unterdrückung ausgesetzt. Sie durften ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre kulturellen Bräuche nicht mehr pflegen. Erst 1996 erhielten sie den Minderheitenstatus, 2005 wurde die Sprache der Kvenen als Minderheitensprache anerkannt.

„,Gierige Menschen‘, murmelt er, als ich seine Hände in meine nehme. ,Wir nehmen zu viel, Brita Caisa, und das kostet uns mehr, als uns lieb ist‘.“

Arvola, 1974 als Tochter der Lyrikerin Liv Lundberg (1944-2022) in Honningsvåg in der Provinz Nordkapp geboren, studierte Theaterwissenschaft und Literaturwissenschaft. Mit „Korellhuset“ erschien 1999 ihr Debüt, das 2002 unter dem Titel „Am Ende der Sehnsucht“ auch ins Deutsche übertragen wurde. Ihr Schaffen ist vielfältig, umfasst neben Romanen auch Bücher für Kinder und Jugendliche, Erzählungen sowie Theaterstücke.

Faszinierendes Panorama

Mit Brita Caisa, inspiriert von der Biografie ihrer Urururgroßmutter, hat die Norwegerin nicht nur eine starke und unvergessliche Heldin geschaffen, die sich allen Herausforderungen stellt, die ihr persönliches Glück sucht. Ihr eindrücklicher Roman vermittelt ein faszinierendes und bildgewaltiges Panorama dieser Zeit und dieses besonderen Landstrichs im äußersten Norden, der seine ganz eigenen Gesetze schreibt und eine atemberaubende Natur besitzt. Arvola gibt einer mutigen Frau eine Stimme und verleiht dem Roman einen speziellen Ton, der ebenfalls die Vorfreude auf die beiden kommenden Bände weckt.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Mit Büchern um die Welt“.


Ingeborg Arvola: „Der Aufbruch“, erschienen im btb Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Katharina Martl; 416 Seiten, 24 Euro

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