„Die Krankheit unserer Tage ist, dass wir so viel Zeit an der Oberfläche verbringen.“
Sie liegen auf dem Grund der Meere und Ozeane. Zusammen bilden sie ein weltumspannendes Netz von mehr als 1,3 Millionen Kilometer Länge. Unterseekabel ermöglichen die Kommunikation zwischen Ländern und Kontinenten. Auf ein Schiff, das diese riesigen „Schlangen“ repariert, führt der irische Schriftsteller Colum McCann in seinem jüngsten Roman „Twist“.
Startpunkt Kapstadt
Der Journalist Anthony Fennell bekommt den Auftrag, über die Arbeit eines solchen Schiffes für ein Online-Magazin zu berichten. Er kontaktiert eine belgische Telekommunikationsfirma, zu der auch das Reparaturschiff „Georges Lecointe“ zählt. Es ist weltweit unterwegs, um zerstörte Seekabel zu reparieren. Und liegt zu jener Zeit in Kapstadt vor Anker. Fennell macht die Bekanntschaft mit dem unnahbaren Missionschef John Conway und dessen Frau Zanele, einer Schauspielerin. Man schreibt das Jahr 2019, die Pandemie steht kurz bevor.

Fast scheint die Recherche zu platzen, weil Conway, der zugleich Taucher ist, Fennell hinhält und kein Auftrag das Schiff erreicht, als schließlich vor der Küste Kongos durch eine Naturkatastrophe ein Kabel in 4.000 Meter Tiefe bricht. Die „Georges Lecointe“ läuft schließlich aus – mit Fennell an Bord. Der Journalist – zugleich Ich-Erzähler des Romans – lernt die Mannschaft kennen, deren Mitglieder aus unterschiedlichen Länder stammen. Für ihn ist die Reise, dieser Auftrag eine Art Selbstprüfung. Doch nach und nach zweifelt Fennell an Conways Lebensgeschichte und Identität.
„Wer wir sind, wird entscheidend davon bestimmt, wer wir nicht sein können. Wir schmeicheln uns, wenn wir glauben, wir könnten ein gänzlich anderer werden.“
Fennell selbst ist nahezu ein Wrack. Er trinkt, seine Karriere als Autor ist genauso gescheitert wie seine Ehe, seine Ex-Frau und ihr gemeinsamer Sohn Jolie leben auf der anderen Seite der Erdkugel in Chile, ein Ozean und ein Kontinent von ihm getrennt. Der aktuelle Rechercheauftrag könnte eine Wende einläuten. Und auch Conway hat schon bessere Zeiten erlebt. Die Beziehung zu Zanele, die mit ihrer Schauspiel-Truppe wegen eines Engagements von Südafrika nach Großbritannien gereist ist und dort Ziel eines schrecklichen Anschlags wird, hängt am seidenen Faden. Bei einem weiteren Reparatur-Auftrag vor der westafrikanischen Küste verschwindet Conway plötzlich spurlos. Aus dem rettenden „Feuerwehrmann“ wird später ein krimineller Brandstifter, um den sich Theorien und Mythen ranken.
McCann ist bekannt dafür, dass er in seinen Romanen besondere, auch teils brisante Themen aufgreift und literarisch verarbeitet. In seinem meisterhaften Roman „Apeirogon“ (2020) widmet er sich dem Nahost-Konflikt und dessen Folgen, in „Der Tänzer“ (2003) dem Leben des russischen Balletttänzers Rudolf Nurejew, der 1981 von einem Gastauftritt in Frankreich nicht wieder in seine russische Heimat zurückgekehrt war. In „Transatlantik“ (2013) erzählt er von den ersten Transatlantikfliegern John Alcock und Arthur Brown. Nun geht es im Konkreten um die Seekabel und ihre immense Bedeutung für die Datenübertragung und Kommunikation. Ohne sie herrscht Chaos, wie McCann am Beispiel Kongos zeigt, wo nach dem Kabelbruch nichts mehr geht.
Vielschichtiger Pageturner
Das alles umspannende Thema des zugleich vielschichtigen Romans ist die Kommunikation: Welche Voraussetzungen braucht sie, wie beeinflusst sie die internationale Sicherheit und zwischenmenschliche Beziehungen, wie abhängig sind wir von dem Kabelnetz mittlerweile geworden, das aus nur wenigen Zentimeter dünnen Kabeln besteht und zugleich sehr störanfällig ist; all das sind Gedanken und Fragen, mit denen sich das Buch auseinandersetzt.
„Am Ende überleben wir wohl, weil wir in der Lage sind zu vergessen.“
McCann hält der modernen Gesellschaft den Spiegel vor. Seinen Held Fennell lässt er währenddessen auf „altmodische“ Art Briefe an seinen Sohn schreiben. Doch der irische Schriftsteller holt mit seinem neuesten Streich noch weiter aus. Den Klimawandel, die Verschmutzung der Meere und den Kolonialismus spricht er genauso an wie die Faszination für die Tiefsee. Nahezu eine Schlüsselrolle spielen ein Buch und ein Film: die Erzählung „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad aus dem Jahr 1889 und der Antikriegs-Streifen „Apokalypse Now“ (1979) von Francis Ford Coppola. Mehrfach finden sich im Roman Anspielungen darauf, McCann zieht Verbindungen zur Handlung und den Figuren seines Romans.
Vielleicht ist „Twist“ nicht gar so herausragend und bahnbrechend wie „Apeirogon“, doch einmal mehr gelingt McCann es, ein komplexes und aktuelles Thema auf spannende und auch eingängige Weise dem Leser zu vermitteln. „Twist“ ist ein großartiger tiefgründiger Pageturner, der dank seiner Erzählerstimme eine Sogwirkung entfaltet, aber vor allem auch nachdenklich stimmt.
Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „LiteraturReich“ und „Buch-Haltung“.
Colum McCann: „Twist“, erschienen im Rowohlt Verlag, erhältlich in einer Ausgabe der Büchergilde Gutenberg; in der Übersetzung aus dem Englischen von Thomas Überhoff; 336 Seiten, 28 Euro
Foto von Ishant Mishra auf Unsplash

