Christine Dwyer Hickey – „Alle unsere Leben“

„Man weiß es immer vom ersten Moment an, stimmt’s, Milly?“

1979: Es ist das Jahr, in dem Margaret Thatcher zur ersten Premierministerin Großbritanniens gewählt wird. Elton John tritt als erster Künstler aus dem Westen live in der Sowjetunion auf. IRA-Mitglied Thomas McMahon wird in Dublin wegen Mordes an Lord Mountbatten zu lebenslanger Haft verurteilt. In einem Londoner Pub lernen sich Milly und Pip kennen – die beiden Hauptfiguren in Christine Dwyer Hickeys großartigem Roman „Alle unsere Leben“, der viel über die Zeit(en) erzählt.

Zwei Aussenseiter in Big London

Der Roman beginnt zwar im letzten Jahr der wilden Siebziger, reicht allerdings bis ins Jahr 2017. Wir begleiten Milly und Pip durch ihr Leben, gute wie schlechte Zeiten und eine Reihe Schicksalsschläge, die sie unweigerlich prägen. Beide verbindet ihre irische Herkunft, beide sind im pulsierenden London gestrandet – die junge Frau, die in einem Pub jobbt, und der ambitionierte Boxer, der  als großes Talent gilt und eine Leidenschaft für Bücher pflegt. Sie verlieben sich schließlich ineinander, regelmäßig begegnen sie sich, doch wie die berühmten zwei Königskinder kommen sie nicht zusammen. Und so vergeht die Zeit, die Jahre, die Jahrzehnte. Mehrfach verlieren sie sich auch aus den Augen.

Milly erlebt mehrere unglückliche Beziehungen, der Pub von Mrs. Oak wird indes mehrfach eine Art Anker sein. Pip hingegen stürzt völlig ab: Er trinkt und landet im Gefängnis. Wir treffen ihn zu Beginn des Romans im Jahr 2017, als er aus einer Entzugsklinik kommt und wieder bei seinem Bruder Dome, einem erfolgreiche Musiker, einzieht. Er kümmert sich um das Haus und die Zimmervermietung, streift durch die Straßen Londons, voller Erinnerungen an seine Kindheit und denkt zurück an Milly. Beide haben jedoch nicht nur Furchtbares in ihrer Vergangenheit erlitten, sie werden auch zur Zielscheibe anti-irischer Ressentiments. Der Nordirland-Konflikt, der mehreren Tausenden das Leben nahm, erlebte Ende der 70er seine Hochphase.

ZWei Preise für Hopper-Roman

Die Autorin ist selbst Irin. 1958 in Dublin geboren, schrieb sie Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Für ihren Roman „Schmales Land“ (2019) über den US-amerikanischen Maler Edward Hopper und dessen Frau Josephine erhielt sie den Walter Scott Prize und den Dalkey Literary Award verliehen. Die tiefgründige und facettenreiche Darstellung menschlicher Beziehungen zeichnen ihre Romane aus – so auch „Alle unsere Leben“, mit dem Originaltitel „Our London Lives“ erschienen.

„Aber es gibt ja zu jedem eine Geschichte, nicht wahr? Sonst wären wir alle nur Ausschneidepuppen.“

Der Leser, die Leserin springt zwischen den Zeiten und dem jeweiligen Leben der beiden HeldInnen. Die Perspektiven wechseln sich ab. Hickey hat eine großartige Struktur für den Plot gefunden, um neben einigen überraschenden Wendungen und einer Reihe tragischer Ereignisse, die manchmal nur angedeutet werden, die Spannung zu halten. Ihr Roman ist ein Buch zum Versinken, mit einer Geschichte, die einen schnell einnimmt.

„Wir verdienen schließlich alle eine Chance, uns das Herz brechen zu lassen.“

Dabei ist der Roman weit mehr als eine berührende Liebesgeschichte. Hickey beschreibt detailliert den Schauplatz: die Metropole an der Themse, die sich im Verlauf der Zeit grundlegend verändert. Das Viertel, in dem sich der Pub von Mrs. Oak befindet, fällt umtriebigen Bauunternehmern zum Opfer, die Vielfalt der Geldgier. Veränderung heißt hier vor allem Uniformität. Bei Pips Rückkehr ist nahezu nichts mehr, wie es einst war. Milly lebt zurückgezogen als „Hausbesitzerin“ im Pup, Pip will in die verlassene Boxhalle einziehen, weil die Beziehung zu seinem Bruder wieder vor einer Zerreißprobe steht. Doch dann sehen sich beide wieder – 38 Jahre nach ihrer ersten Begegnung. Ihre Träume sind nur Träume geblieben, ihr Leben ist nun vor allem ein prekäres am Rande des Existenzminimums.

Grosse Themen des Lebens

„Alle unsere Leben“ erzählt hingegen noch eine ganz andere Geschichte: die eines Mannes, der nach und nach, mit jedem Glas Whisky an der Theke in den Alkoholismus abgleitet und schließlich versucht, mit unermüdlichen Anstrengungen von der Sucht wegzukommen, ein „Sober Life“ zu führen.

Hickey hat viel in ihren großartigen weil lebenssatten und vielschichtigen Roman hineingepackt, ohne ihn damit zu überfrachten. Vielmehr schafft sie für ihre HeldInnen eine vielschichtige Kulisse. Milly und Pip werden zu unvergesslichen Charakteren, in denen sich die großen Themen widerspiegeln: Liebe und Menschlichkeit, unerfüllte Lebensträume und Vergebung. Das Ende ist speziell, bei dem sich jedoch der Leser, die Leserin letztlich fragen kann, ob er eher zum Optimismus oder zum Pessimismus neigt, ob er eher auf der Seite von Milly oder Pip steht.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Lust auf Literatur“, „aus-erlesen“ und „Literaturleuchtet“


Christine Dwyer Hickey: „Alle unsere Leben“, erschienen im Unionsverlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Kathrin Razum; 560 Seiten, 26 Euro

Foto von Frank Albrecht auf Unsplash

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