Olaf Kanter – „Randmeer“

„Die ständige Veränderung ist die einzige Konstante an dieser Küste.“  

Gebe ich das Wort „Nordsee“ ein, spuckt Google binnen weniger Sekunden eine regelrechte Flut aus etwa 49 Millionen Ergebnissen aus. Allen voran eine große Imbisskette. Dann erscheint Wikipedia, es folgen diverse Tourismus-Seiten sowie Schlagzeilen aktueller Nachrichten. Mittendrin Bilder von Stränden und Strandkörben, Leuchttürmen und Fischerbooten.

Ein Raum der Wildnis?

Es sind Bilder, die auch ich mit der Nordsee assoziiere. Als Kind durch die Ferien mit den Eltern eher eng mit der Ostsee verbunden, lernte ich durch eigene Reisen schließlich auch die Nordsee kennen – und lieben. Besonders in Erinnerung: die Dünen von Terschelling und Amrum, die urigen Fischerhäuser auf Föhr, das Radeln auf flachen wie endlos scheinenden Wegen. Und nicht zu vergessen das Watt. Imposanter Schauplatz der Gezeiten. Für den Journalisten Olaf Kanter, seit 2017 Chef vom Dienst bei Spiegel.de und früherer Textchef des „mare“-Magazins, ist die Nordsee vor allem Wildnis, wie er zu Beginn seines Bandes „Randmeer“ schreibt. Eine Ansicht, die er im Verlauf seines Essays jedoch auf den Prüfstand stellt.

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Ja, die Nordsee ist beliebtes Ziel von Millionen von Touristen entlang der Küsten. Sie ist aber zugleich auch ein riesiger Raum, in dem sich die Wege von Schiffen in allen nur erdenklichen Größen, vom kleinen Segelboot bis zum Mammut-Containerschiff, kreuzen, in dem auf riesigen Plattformen Öl gefördert, in Windparks erneuerbare Energie erzeugt wird. Durch den Menschen sind die Räume der Nordsee nahezu unwiderruflich enger geworden. Es bleibt für den Menschen die Illusion vom Meer als der letzten Wildnis auf Erden, von Weite und Freiheit der offenen See, heißt es auf einer der letzten Seiten des Essays.

Reise auf verschiedenen Weisen

Doch die Nordsee lässt noch immer staunen. Kanter versammelt dazu die passenden „Geschichten“, die das Schelfmeer und Randmeer des Atlantischen Ozeans porträtieren, in dem sie sowohl von seiner Geschichte als auch von seiner Gegenwart erzählen. Eine spannende und erhellende, manches Mal auch berührende Reise durch die Zeit, zu verschiedenen Orten, ab und an auch als „Passagier“ auf der „Bijou“, auf der der Journalist und passionierter Segler die Nordsee erkundet.

„Das Wasser steigt, die Sedimente wachsen. Nur weil es dieses Patt der Naturgewalten gibt, kann dieses besondere Reich entstehen, in dem Meer und Land abwechselnd herrschen, im Takt der Gezeiten.“

Besonders interessant: die Passagen zum faszinierenden Doggerland und der Doggerbank, einer Sandbank, die es mit umliegenden Meeresgebieten vor gut  10.000 Jahren, als der Meeresspiegel niedriger war als heute, ermöglichte, zu Fuß nach England zu gehen. Das Randmeer hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert – und es wandelt sich weiterhin. Ausgesetzt den natürlichen Kräften sowie dem Einfluss des Menschen. Kanter blickt auf verheerende Ereignisse: Eine Sturmflut ließ 1362 die Siedlung Rungholt versinken, 1881 kamen 129 Fischer aus dem schottischen Ort Eyemouth in einem Orkan ums Leben. Der Leser lernt darüber hinaus die wechselwolle Geschichte Helgolands kennen sowie was es mit den Kabeljau-Kriegen zwischen Island und Großbritannien auf sich hat. Und der Essay vermittelt eine wichtige Botschaft und einen dringenden Appell: den Reichtum der Natur zu bewahren und bei kommenden Plänen, die Nordsee immer auch als Lebensraum zu betrachten.

„Randmeer“ ist Teil der Buchreihe „European Essays on Nature and Landscape“, die im vergangenen Jahr mit den ersten Titeln ihren Anfang nahm. Die Bücher sind keine historischen Naturkunden, sondern behandeln auf vielfältige Art und Weise gegenwärtige Lebensräume des Kontinents. Sie erzählen von Mooren und Meeren, von Bergen und Hügeln, Seen und Teichen. Jeder Jahrgang umfasst sieben Bände. Die Zielvorstellung der Edition sei die Entstehung einer europäischen Bibliothek der Landschaften und Naturphänomene, so Verleger und Herausgeber Klaas Jarchow.

Reich bebildert und liebevoll gestaltet

Zugegeben: Mit der Form des Essays habe ich in der Vergangenheit eher gefremdelt. Alles wurde indes anders mit dem Band „Store Kongensgade 23“ des dänischen Lyrikers und Essayisten Søren Ulrik Thomsen, den ich kürzlich las.  Meine Begeisterung für Natur und Umwelt ließ mich nun zu Kanters Werk greifen, das neben seinen Geschichten und seinem stets eingängig und bildhaft vermittelnden Wissen auch zahlreiche eindrückliche Fotografien, historische Fotos und Karten umfasst und liebevoll gestaltet wurde. „Randmeer“ ist für mich nun der erste Band dieser Reihe, es wird nicht der letzte sein. Schätze brauchen Zeit, um zu wachsen.


Olaf Kanter: „Randmeer“, erschienen im KJM Buchverlag, in der Reihe „European Essays on Nature and Landscape“, 144 Seiten, 20 Euro

Foto von Oliver Raatz auf Unsplash

Ein Kommentar zu „Olaf Kanter – „Randmeer“

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