Christoffer Carlsson – „Wenn die Nacht endet“

„Wem es gelingt, sich von seiner Vergangenheit zu befreien, der erhält ein zweites Leben.“

Es ist kein schönes Ende, leblos in einem Kofferraum eines Autos aufgefunden zu werden. Egal in welchem Alter. Mikael ist gerade mal 18, als er getötet wird. In einer Dezembernacht des Jahres 1999. Nur kurz zuvor hatte er mit Freunden eine Party besucht. Die Einwohner von Skavböke stehen unter Schock. Siri Bengtsson ist neu in dem westschwedischen Dorf. Gemeinsam mit der erfahrenen Polizistin Gerd Pettersson übernimmt sie den Fall, ohne zu ahnen, dass der Täter erst 20 Jahre später gefunden werden soll.

Ein Dorf, ein Verbrechen

Christoffer Carlsson lässt in seinen Kriminalromanen sehr viel Zeit vergehen. „Wenn die Nacht endet“, der jüngste Streich des Schweden, ist nach „Unter dem Sturm“ und „Was ans Licht kommt“ Band drei der Reihe um den Polizisten Vidar Jörgensson. Doch er braucht auch diese gut zwei Jahrzehnte Handlungszeit, um etwas Wichtiges zu erzählen: Was macht ein Verbrechen mit den Menschen, vor allem in einer so kleinen Ortschaft wie Skavböke, wo jeder jeden kennt.

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Darin liegt ein zutiefst menschlicher Blick, der zu einer vor allem psychologischen Sicht auf die Ereignisse führt, die ihren Anfang nehmen mit dem Mord an Mikael – oder noch viel früher? Denn ein Tötungsverbrechen hat meist immer auch eine Vorgeschichte, auch das will Carlsson erzählen, wobei er die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln schildert, in die Köpfe der Protagonisten schaut, die mehr oder weniger mit dem Mord zu tun haben.

Wie Sander und Killian, zwei Freunde von Mikael und seit ihrem sechsten Lebensjahr, unzertrennlich, wenngleich ihre Lebensziele und schließlich auch ihre Gefühle für Felicia ein Keil in die enge Freundschaft treiben. Killian will in Skavböke bleiben, Sander zieht es nach Stockholm, um Jura zu studieren. Wo er indes nicht ankommen wird. Zwei weitere tragische Vorfälle, die Leben kosten, nehmen Einfluss auf seinen Werdegang, der an dieser Stelle nicht verraten wird. Nur so viel: Wir treffen Sander, den vor allem Schuldgefühle plagen, wieder als mittlerweile erwachsenen Mann, der als Lehrer tätig ist und mit seiner Familie nicht weit von Skavböke lebt.

Blick hinter die Kulissen

Carlsson ist ein Meister im Schreiben von außergewöhnlichen Plots, die mit Überraschungen aufwarten und die Ruhe der Erzählung nur vorgaukeln. Vielmehr brodelt es gewaltig. Der Schwede schaut hinter die Kulissen, deckt Beziehungen auf, in denen es gefährlich knistert, hinterfragt gesellschaftliche Strukturen und Muster. Nicht nur Missgunst und gefährliche Geheimnisse auch der Niedergang eines Dorfes, in dem Arm und Reich aufeinanderprallen, sowie generell unruhige Zeiten wirken wie ein Katalysator für eine ungute Entwicklung. Selbst eine taffe Polizistin wie Siri Bengtsson wird all das zu viel. Sie quittiert den Dienst, zieht sich als Möbelrestauratorin in ihre Werkstatt zurück, wo Vidar sie schließlich aufsucht, als Filip, der Bruder von Mikael, getötet wird.

„Fast nichts war wichtiger als Worte, so hatte er es immer gesehen. Worte beschrieben die Welt nicht nur, sie erschufen sie, formten sie und konnten sie deshalb auch verändern.“

Carlsson, Jahrgang 1986, wuchs an der Westküste Schwedens auf, dort, wo auch seine Romane angesiedelt sind. Er promovierte in Kriminologie an der Universität Stockholm. In seiner Dissertation und weiteren wissenschaftlichen Publikationen widmete sich der Schwede der Entwicklungskriminologie. 2012 wurde er mit dem Young Criminologist Award der International European Society of Criminology, ausgezeichnet. Für seinen Debütroman „Der Turm der toten Seelen“ erhielt er 2013 als jüngster Preisträger mit 27 Jahren den Schwedischen Krimipreis, den er mit „Wenn die Nacht endet“ zum zweiten Mal bekam. Darüber hinaus wurde er für sein jüngstes Werk mit dem Skandinavischen Krimipreis geehrt.

„Die simpelste Definition, die man in Skavböke kennt, was Menschsein bedeutet: den Sinn in anderen finden. Und wenn das nicht mehr möglich ist, weil andere weggehen oder von einem genommen werden, passiert es leicht, dass man verloren geht.“

„Wenn die Nacht endet“ ist kein Kriminalroman mit viel Blut und ausufernder Gewalt, mit Verfolgungsjagden und einem großen Ermittlerteam. Siri und Gerd sind meist allein auf sich gestellt, die Polizei scheint generell in den ländlichen und dünnbesiedelten Gebieten ungenügend aufgestellt zu sein. 1999 steckt zudem die Nutzung von DNA-Datenbanken in den Kinderschuhen. Ein DNA-Abgleich wird schließlich Vidar helfen, einen Toten nunmehr korrekt zu identifizieren, was dem Fall letztlich eine ganze andere Richtung gibt.

Carlsson großartiger, tiefgründiger wie auch dramatischer Roman handelt von den großen Gefühlen – von Hass, Schuld und Verletzlichkeit, aber vor allem in einer fast epischen Wucht vom Tod und den Toten, die die Lebenden begleiten und manchmal auch vereinnahmen.


Christoffer Carlsson: „Wenn die Nacht endet“, erschienen im Rowohlt Verlag (Kindler), in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann; 464 Seiten, 24 Euro

Foto von Jasper Graetsch auf Unsplash

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