Nichts ist mehr, wie es war. Der einst erfolgreiche Serienstar Chase lebt nur noch von den Tantiemen für seine jetzigen Mattscheiben-Auftritte in Endlosschleife und vertrödelt den Tag in einem weichplüschigen Kinosessel mit Blick auf die aktuellen Leinwand-Stars, der berüchtigte Rockkritiker Perkus verkrümelt sich dagegen in seiner heimischen Rumpelkammer, mit ein paar selbst gedrehten Joints und Verschwörungstheorien a la „Brando lebt“ lebt es sich halt gut. Und New York? Nun, New York macht weiterhin wie gehabt kräftig Schlagzeilen, von einem Tiger ist immer wieder die Rede, der Häuser einstürzen lässt. Hat man so etwas schon gesehen? Aber was man nicht gesehen hat, liest, hört oder sieht man ja in den Medien, der Ersatz der realen Wirklichkeit schlechthin.
Auch Chase erhält seine Informationen über seine Verlobte Janice, die als Astronautin im All in gefährlichen Nähe zu einem von den Chinesen ausgesetzten Minengürtel herumschwirrt, aus der Presse: Ihre Liebesbriefe werden in der Zeitung abgedruckt und sorgen für Gesprächsstoff. Und nicht nur das. Chase muss seine Rolle als Verlobter der wagemutigen Astronautin spielen, ob er will oder nicht. The Show must go on – gerade in einer von den Medien inszenierten und diktierten Welt, wie sie im Roman „Chronic City“ des amerikanischen Autors Jonathan Lethem entsteht.
Hier tummeln sich nicht nur Chase und der frühere Rockkritiker Perkus. Zum Zirkus makabrer Gestalten gesellen sich Richard, ein einstiger Hausbesetzer, der jetzt einen recht ruhigen Posten im New Yorker Rathaus innehat, und Oona, Ghostwriterin obskurer Autobiografien und Geliebte von Chase. Man trifft sich auf High-Society-Partys oder im von Jointrauch durchnebelten Appartement von Perkus. Manchmal auch auf einen Burger in einem Imbiss um die Ecke.
Die Geschichte entlang eines roten Fadens nachzuerzählen, fällt schwer, wenn dies nicht sogar ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Figuren und Episoden drehen sich förmlich umeinander. Manchmal entsteht der Eindruck einer nahezu willkürlich zusammengesetzten Collage oder eines gestörten Fernsehempfanges, wie zu DDR-Zeiten, als der Empfang des West-Fernsehen gestört war und das Bild über die Mattscheibe rollte. Der rote Faden bilden neben den Personen Symbole, deren rätselhafte Bedeutung und Inhalt im Laufe des Romans erklärt werden, wie jenen Tiger, der sich als außer Kontrolle geratene Maschine entpuppt oder jenes so genannte Kaldron, ein virtueller Heiliger Gral, auf dessen vergebliche Suche sich Perkus, Chase und Richard machen.
All dies stellt Ansprüche an den Leser, fordert Geduld und Mut zu verqueren Deutungen. Belohnt wird man indes mit humorvollen Szenen, einem Haufen wunderbar gestalteten schrägen Figuren und einer Geschichte, die auch über das Lesen hinaus zum Nachdenken anregt dank weiser Sätze, vor allem aus dem Mund des einstigen Musikkritikers, dessen Gedankenwelt geformt aus Film- und Song-Interpretationen schließlich keine Verschwörungstheorien, sondern die Wahrheit darstellen.
Am Ende des Buches fragt man sich, was ist Wirklichkeit, was nur ein umkonstruiertes Abbild der Realität, fern derselben? Welche Rolle spielt jeder Einzelne? Ist dieses New York des Romans eine Science-Fiction-Welt oder vielmehr ein übersteigertes Bild der modernen Metropole. Was man schließlich diesem wunderbaren Werk einzig und allein vorwerfen könnte, ist das Fehlen der Bemühungen, die Figuren dem Leser ans Herz wachsen zu lassen. Sie erscheinen plastisch, aber allzu oft fern. Wie Janice, die sich schließlich im All auflöst, nur noch als Briefschreiberin in Erscheinung tritt, aber am Ende ist auch das ein Trugschluss.
Chronic City von Jonathan Lethem erschien bei Klett-Cotta
In der Übersetzung von Johann Ch. Maass und Michael Zöllner
Februar 2011
490 Seiten, 24,95 Euro