Füchten ist nicht unbedingt der geeignete Ort, eine aufregende Jugend zu verbringen. Hier leben gerade einmal ein paar Tausend Einwohner, ganz in der Nähe einer Raketenbasis der Nato. Es sind die 80er Jahre, die Zeit, als Privatfernsehen oder Teletext für Diskussionen sorgt, die Musik der Neuen Deutschen Welle oder eines David Bowie auf Langspielplatten in kleinen Elektroläden zu kaufen gibt. Wenn man Glück hat. Die Jugend sträubt sich mit Protesten gegen die Aufrüstung und die biedere Elterngeneration. Dann und wann wird im Eifer der eigenen inneren Wut und Unzufriedenheit der Lack einer „fetten“ Limousine zerkratzt.
Der 18-jährige Jan schottet sich nahezu vom Rest der Welt ab. Er lebt in seiner eigenen – nur zu seiner Schwester An, den fünf Hunden der Familie und seinem Freund Torsten hat er Zugang. Seinen Eltern geht er eher aus dem Weg und vergräbt sich in Büchern und seinen eigenen Texten. Und kurz vor dem Abitur stehend, weiß er auch noch nicht, wohin es ihn führen soll. Doch der Gedanke an die Zukunft tritt in den Hintergrund, als eine Tragödie nach der anderen über Jan und seine Mitschüler hinwegfegen. Ein Mitschüler und Bandmitglied stirbt bei einem Autounfall, auch der zweite ältere Bruder von Torsten begeht Selbstmord und dann geschieht direkt für Jan das Unfassbare. Seine Schwester An wird ebenfalls während eines Verkehrsunfalls getötet. Der Boden unter den Füßen von Jan Bodenlos schwankt.
Thomas Langs Roman „Bodenlos“ – der Titel sicherlich sowohl mit Blick auf den Helden als auch auf dessen Situation treffend gewählt – erzählt eine Geschichte, die viele Themen und den Leser berühren. Neben der Beschreibung einer Jugend in einer westdeutschen Kleinstadt in den 80er Jahren, den Schwierigkeiten des Erwachsenenwerdens und mit der ersten Liebe beschreibt Lang, Jahrgang 1967 und Bachmann-Preisträger für einen Auszug aus seinen Roman „Am Seil“, die Gedankenwelt eines nachdenklichen, melancholischen Jugendlichen. Noch am Anfang mit einer herrlichen Freibad-Szene die Geschichte eröffnend, verliert sich mit jedem Kapitel die Lebenslust, Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Jan wohnt eine gewisse Todessehnsucht inne, die auch Kiku, Tochter eines Japaners und einer Deutschen, nicht vertreiben kann, zu der Jan tiefe Gefühle empfindet. Als sie schließlich mit ihrer Mutter nach London zieht, bleibt Jan in Füchten zurück, wird der Kontakt nur über einige unregelmäßige Briefe aufrecht erhalten.
Sicherlich ist diese Ernsthaftigkeit des Buches, die zahlreichen schmerzhaften Geschehnisse und die Richtungslosigkeit seines Helden nicht unbedingt ein Grund, dieses Buch sofort mit Freude in die Hand zu nehmen.Das gewöhnungsbedürftige Coverbild lädt auch nicht dazu ein. Wer indes Entwicklungsromane und literarische Zeitporträts mag, wird diesen poetisch geschriebenen Roman regelrecht verschlingen, von ihm gefangen sein. Denn er enthält innerhalb der Handlung intelligente eingewobene Voraus- und Rückblicke sowie Szenen, die viel Liebe zum Detail und zur Ausgestaltung einer besonderen Stimmung verraten. An die Charaktere wird man lange denken müssen – ein gutes Zeichen, wie plastisch und lebendig sie gestaltet wurden und sie sich deshalb in Herz und Kopf eingegraben haben. Am Ende bleibt in einem eine Melancholie und Nachdenklichkeit zurück und die Frage, warum die Jugend sich immer so allein fühlen muss, vor allem warum die Generationen aneinandervorbeileben.
Bodenlos von Thomas Lang erschien im vergangenen Jahr im Verlag C.H. Beck
416 Seiten, 21,95 Euro