„Es ist schwer zu begreifen, warum es einen so bedrücken kann, etwas Schönes zu sehen, aber manchmal ist das so.“
Enge Verbindungen zwischen Mensch und Tier schreiben die schönsten und emotionalsten Geschichten, jene, die einen zutiefst bewegen, ob sie nun ein Happy End oder einen tragischen Ausgang haben. So viel schon einmal vorweg: der Jugendroman „Lean on Pete“ des Amerikaners Willy Vlautin geht gut aus. Hätte ich nur geschrieben, dass seine Story sehr traurig ist, würden die meisten sicherlich jetzt das Lesen beenden. Traurige Geschichten haben einen schweren Stand. Kaum einer will an die Abgründe und Tücken des Lebens erinnert werden, nicht einmal durch wunderbare Literatur.
Erzählt wird die Geschichte von Charley. Er ist 15. Mit seinem Vater Ray ist er wieder einmal in eine neue Stadt gezogen. Denn der hält es nie lange an einem Ort aus. In Portland ziehen sie in ein Haus, der Vater hat einen Job. Charley nur keine Freunde. Er vertreibt sich die Zeit der Ferien mit Joggen und entdeckt eines Tages eine Pferderennbahn und Del, der seine Pferde in die Rennen schickt. Oft auf abgesteckten Feldwegen, oft mit Medikamenten im Blut. Charley wird sein Handlanger, sein Helfer, der schlecht, manchmal gar nicht bezahlt wird. Und da auch sein Vater sich kaum um ihn kümmert, ist der 15-Jährige oft auf sich allein gestellt. Bei der Arbeit macht er die Bekanntschaft mit dem Pferd Lean on Pete. Er kümmert sich rührend um ihn, erzählt ihm seine Erlebnisse, seine Ängste und Hoffnungen. Charleys Vater wird bei einem Zusammentreffen mit dem Mann seiner Geliebten schwer verletzt. Im Krankenhaus verstirbt er wenige Tage später. Charley bleibt allein zurück. Als jedoch Lean on Pete wegen einer Verletzung und schlechten Rennergebnissen der Tod droht, flieht Charley mit dem Pferd. Er begibt sich auf die Suche nach seiner Tante. Doch die Reise von Portland nach Denver quer durch das karge Land der Wüste gerät zu einer Odyssee…
… die als ein Roadmovie im Kopf des Lesers erscheint. Viele Gesichter hat dieses Buch, das einen nicht nur in das Leben des Jungen einführt, sondern auch seine Entwicklung beschreibt. Der Roman ist also Tiergeschichte, Amerika-Roman, Jugendbuch, Aussteiger-Geschichte und Entwicklungsroman in einem. Auf hochsprachliche Poesie muss man indes verzichten. Vielmehr lässt Vlautin den Jungen in seiner recht einfachen Sprache berichten. Nur so kann auch die besondere Bindung entstehen, die es zwischen dem Helden und dem Leser gibt. Charley lernt man kennen und dann lieben. Er ist ein zäher Bursche, der sich durchbeißt, auch wenn er nahezu am Abgrund steht, sowohl pleite als auch einsam ist. Während sein Halt das Pferd ist, werden ihn später seine Erfahrungen und das große Durchsetzungswillen zur Seite stehen. Er muss und will zu seiner Tante, das einzige Familienmitglied, die er noch hat. Auf dem Weg dahin trifft Charley schlechte und gemeine Menschen, die ihn ausnutzen, übers Ohr hauen und ausrauben, aber er macht auf seinem langem Trip durch einen Teil Amerikas auch die Bekanntschaft von hilfsbereiten Menschen. Der Junge lernt dabei außerdem die Widrigkeiten der Gesellschaft wie Armut, Obdachlosigkeit und Kriminalität sowie menschliche Untugenden wie Gewinnsucht und Grausamkeit kennen.
Am Ende gibt es so einen leichten Seufzer. Der Junge wurde für seine Mühen belohnt, auch wenn die durchlebten Strapazen und entsetzlichen Erlebnisse ihn gezeichnet haben. Doch nicht nur ihn: Der Leser hat eine rührende, jedoch niemals kitschig erscheinende Geschichte erfahren, eine, die sogleich weh tat, aber so viel Lebensklugheit vermittelte – und das auf 300 Seiten und in Form eines Jugendbuchs, das damit ein Meisterstück sowohl für Jugendliche als auch Erwachsene ist.
Der Roman Lean on Pete von Willy Vlautin erschien im Bloomsbury Verlag in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Robin Detje.
304 Seiten, 9,95 Euro