„Jeder hat mehr zu tragen, als er sagt.“
Sie wollten nur Brot kaufen – an einem Tag im Jahr eins des Krieges. Eine Granate der bosnisch-serbischen Einheiten, die die Stadt Sarajevo von den umliegenden Höhenzügen belagern, beendet ihr Leben in Bruchteilen von Sekunden. Mehr als 20 Männer und Frauen sterben, rund 70 weitere werden verletzt. Ein Mann ist Zeuge jenes grauenvollen Moments, ein Cellist des Philharmonischen Orchesters, der sich wenig später mit seinem Instrument und im Anzug gekleidet auf jenen Platz setzt und zu spielen anfängt. Inmitten des Blutes und Blumen, die nach und nach als Ausdruck der Trauer und des Gedenkens niedergelegt werden. 22 Tage lang spielt der Künstler, um an das Leid zu erinnern, die Toten zu ehren. Seiner wahren Geschichte widmet sich der Roman „Der Cellist von Sarajevo“ des kanadischen Autors Steven Galloway.
Das Stück des Cellisten: das Adagio des venezianischen Komponisten Tomaso Albinoni. Die Gefahr: von Heckenschützen erschossen zu werden. Strijela ist Heckenschützin der bosnisch-kroatischen Truppen, die die Stadt verteidigen, und eine der besten. Ihr Auftrag ist es, den Cellisten zu beschützen.
Währenddessen machen sich zwei Männer auf den Weg durch die zerstörte Stadt; der eine, Kenan, will Wasser für seine Familie und die Nachbarin holen, der andere, Dragan, Brot aus einer Bäckerei. Beide setzen sich dabei der Gefahr aus, von Heckenschützen erschossen oder von Granaten getötet zu werden. Zwischen Leben und Tod sind es nur wenige Sekunden, dass sehen beide gerade an jenen Menschen, die sterben – ob Männer, Frauen oder Kinder.
Es ist ein Leben zwischen Trümmern, das die Menschen aufreibt. Könnte doch der heutige Tag der letzte sein. Die Angst geht um. Der Alltag wird zum Versteckspiel zwischen Trümmerteilen, zum Wettlauf mit der Zeit und zu einem Kampf ums Überleben. Ein Heckenschütze könnte dich bereits ins Visier genommen haben, und der Weg zu Nahrungsmitteln ist lang und gefahrenreich. Man lebt auf einem untersten Level, selbst Strom gibt es nur ab und an. Die friedliche Vergangenheit existiert nur noch als zarte Erinnerung, die immer mal wieder auftaucht und die Menschen berührt, Mut macht, auch wenn der Krieg unerbittlich ist. Man träumt von einem Besuch in einem Restaurant, einen Ausflug in die Berge. Während die einen sich gegenseitig helfen, Medikamente verteilen, Verletzte aus der Schusslinie bringen und versorgen, bereichern sich andere an der Not der anderen, machen krumme Schwarzmarkt-Geschäfte. Erkennbar sind sie an ihrer gut genährten Figur, an den großen Autos. Es sind gerade jene Kontraste, diesen Roman rund um das Grauen des Bürgerkriegs und den besonderen Auftritt des Cellisten inmitten Tod und Leid so besonders werden lässt. So treffen die grauenvolle Gegenwart des Krieges auf die Sehnsüchte und Erinnerungen der Bewohner, die unterschiedliche Schicksale, die der jungen Heckenschützin und des Familienvaters, aufeinander. Erst die verschiedenen Blickwinkel schaffen ein plastisches Bild der damaligen Ereignisse.
Für das Buch hat Galloway aufwendig recherchiert, hat unter anderem mit Einwohnern der Stadt gesprochen und ein authentisches Beispiel als Vorlage genommen: Vedran Smailovic hieß der Cellist, der mit seinen Auftritten nach dem Anschlag für Aufsehen sorgte. Im Buch zieht er sich wie ein roter Faden durch das Geschehen, mit seiner mutigen Tat, die den Menschen nahe geht. Es gibt kaum einen, der von der Musik nicht berührt wird. Selbst ein feindlicher Heckenschütze hört wie gebannt zu.
Zu Beginn des Romans zieht Galloway zudem eine Parallele zu Dresden, der am Ende des Zweiten Weltkriegs innerhalb von drei Tagen zerbombten sächsischen Landeshauptstadt. Nach den verheerenden Luftangriffen soll ein italienischer Musikwissenschaftler jenes Werk Albinonis in den Überresten der Dresdner Musikbibliothek gefunden haben.
Gerade in der Beschreibung der Personen, ihrer Gedanken wird die entsetzliche Atmosphäre des Krieges deutlich. Obwohl die Trümmerlandschaft und die Gewalt ebenfalls in erschütternden Bildern beschrieben werden – die Geschehnisse unmittelbar aus den Eindrücken der Personen erzählt, machen die Auswirkungen des Krieges ausdrucksvoller und ergreifender. Wer sich bisher noch nicht mit diesen jüngsten historischen Ereignissen auseinandergesetzt, wird vielleicht mit diesem ergreifenden Roman beginnen, der auf einer wahren Geschichte beruht.
Und es ist nicht nur dieser Krieg, der nachdenklich stimmt, es ist auch jener Gedanke, dass dieser Bürgerkrieg auf dem Balkan – es waren in den 90er Jahren mehrere Kriege an verschiedenen Orten – nur wenige Hunderte Kilometer von Deutschland entfernt stattgefunden hat. Und das über mehrere Jahre. Allein die Belagerung von Sarajevo von 1992 bis 1996 forderte das Leben von rund 10.000 Menschen. Über 80 Prozent der Gebäude in der Stadt wurden schwer beziehungsweise teilweise beschädigt.
„Der Cellist von Sarajevo“ von Steven Galloway erschien im btb-Verlag in der Übersetzung aus dem Englischen von Georg Schmidt.
240 Seiten, 9,95 Euro