„Die Welt ist viel zu alt. Seele ist Geist ist Hirn ist Körper. Ich bin du, und du bist es, und es wird immer Sieger bleiben.“
Er könnte ein glückliches, erfolgreiches und zufriedenes Leben führen. So viele positiven Eigenschaften und Möglichkeiten verbinden sich mit Tim Farnsworths Leben. Als Anwalt und Partner einer New Yorker Kanzlei wird er geachtet. Seine Frau Jane und seine Tochter Becka lieben ihn. Gemeinsam wohnen sie in einem großen Haus im Grünen. Doch die Idylle kippt mit der Sucht des Mannes. Oder ist es ein eigener innerer Antrieb? Tims unerklärlichen Märsche, die plötzlich beginnen und in unbekannte Viertel und Straßen führen, bleiben unerklärlich. Er läuft und läuft und läuft. Viele Kilometer lässt der Held im Roman „Ins Freie“ von Joshua Ferris zurück. Bis zur Erschöpfung ist er unterwegs, bis er schließlich in einen Schlaf fällt. Wenn er aufwacht, weiß er meist nicht, wo er sich befindet. Denn Strecke und ihr Zielpunkt sind immer wieder verschieden. Mal ist auf einem Friedhof Schluss, mal auf einer Parkbank, an Müllcontainern oder im Fahrerhaus eines Lieferwagens. Das Wetter spielt keine Rolle. Es kann regnen, schneien, Hitze herrschen – Tim ist unterwegs. Weder ein wichtiger Termin kann ihn stoppen noch die Bitten seiner Familie.
Sein Leben löst sich schließlich um ihn herum auf. Er verliert die Partnerschaft der Kanzlei, nachdem ein wichtiger Mandant vermutlich unschuldig lebenslang hinter Gittern muss. Die Zeit der Trennung von der Familie und seinem Zuhause wird immer länger. Aus kurzen Gewalttouren werden Tagesmärsche. Jane fängt an zu trinken, Tochter Becka hält ihren Vater für einen Verrückten. Die medizinische Untersuchung, zu der Tim einwilligt, bringt nichts. Doch das ist nur der Anfang von Niederschlägen – ganz nach der Devise „Wie gewonnen, so zerronnen“ oder willkommen auf einer Achterbahn der Gefühle. Die Schübe werden immer drastischer, die Wanderungen zerren am Leib. Zehen und Finger müssen amputiert werden, der Körper wird ausgemergelter, eines Tages landet Tim sogar in der Psychiatrie.
Was auf den ersten Blick wie eine Geschichte a lá Forrest Gump erscheint, endet im Fiasko. Die Familie zerbricht, der Lebensfaden mit Job und Eigentum zerdröselt. Einzig Becka meistert ihren Lebensweg, der so gar nicht von ihren Eltern erwartet wurde. Der Schluss wartet nicht mit einem Happy-End auf. Vielmehr streut Ferris, 1974 in Illinois geboren und für sein Debüt „Wir waren unsterblich“ (2007) von den Kritikern hochgelobt und mit dem Hemingway Foundation/PEN Award ausgezeichnet, wieder Salz in die Wunde: Sein Roman, der sich spannend liest und an vielen Stellen nachdenklich stimmt, geht ans Herz und die Nieren. Es ist ein Ausheul-Buch, eines, das wehtut. Weil der Amerikaner nicht nur die drei Hauptpersonen hervorragend gestaltet und ihre Beziehung zueinander nachvollziehbar aufbaut, sein Werk beschreibt ein einziges Scheitern. Und nichts und niemand macht wirklich etwas mit Wirkung. Tim geistert in der Weltgeschichte umher, Janes Liebesbeteuerungen und ihr Rückhalt bringen ihn von seiner „Sucht“ nicht ab. Am Ende tut sich der Abgrund auf – noch die perfekteste Outdoor-Ausrüstung – Jane hatte schon zu Beginn der Schübe für ihn einen Rucksack mit allen nötigsten Dingen gepackt – und das Wissen darum wird nicht helfen.
Der Nachhall des Buches bleibt lange bestehen. Hätte Ferris indes noch die Krimi-Geschichte rund um den unschuldigen Mandanten und die Suche nach dem wahren Mörder kontinuerlicher ausgebaut, wäre es ein Meisterwerk geworden. Doch auch so ist es umwerfend und starke Lektüre.
Der Roman „Ins Freie“ von Joshua Ferris erschien bereits als Taschenbuch bei btb, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Marcus ingendaay.
352 Seiten, 9,99 Euro